Donnerstag, 17. Dezember 2009

Kapitel 3 - Teil 2: Palmares, ein Dorf wehrt sich

Seit geraumer Zeit nun, pflegen Dilan und ich oefters, bei unseren wochenendlichen Ausgaengen sowie abendlichen Anlaessen, das Nachbardorf Palmares aufzusuchen. Ein wenig Abwechslung vom ruhigen Paradiesgarten Terra Mirim kann zwei 20jaehrigen ja nicht schaden, dachten wir uns. Das Jugendgruppencamping vor einigen Wochen hat uns Deutsche in die Dorfgemeinschaft integriert, spaetestens bei der Aufnahmepruefung (Glas Spuelmittel mit Knoblauch, Zahnpasta....trinken) sind wir Teil der Familie geworden. Man lernte sich naeher kennen und, was mir meine Zeit hier seitdem deutlich bereichert hat, knuepfte Freundschaften mit einheimischen Jugendlichen ohne festen Bezug zu Terra Mirim.

So erfuhren wir nach und nach, dass diese Jugendgruppe unter der Leitung einiger End-20iger (zumindest laut Ausweis) noch in den Kinderschuhen steckt und aus dem Wunsch erwachsen ist, jugendliche Interessen mit sozialen Motiven zu verbinden, sowie gleichzeitig die Jungen und Maedchen von der Strasse zu holen, wo der Weg auf die schiefe Bahn geteert liegt. Gemeinsam wurde dann im Oktober ein tolles Halloweenfest auf die Beine gestellt: ein Partyraum, mit nahe gelegenem Regenwassertank bzw. Pool, wurde organisiert, genauo wie leckeres Essen afrikanischer Rezeptur. 250 Menschen sollten den "Saal" fuellen und ein DJ spielte Charthits von den Beatles bis Bushido (!). Und das beste an der Sache: die Eintrittsgebuehr - wahlweise ein Kilo Reis, Zucker, Bohnen, o.Ae. - wurde von allen erbracht, anschliessend gesammelt und am darauffolgenden Tag an beduerftige Familien verteilt. So profitierte das ganze Dorf davon: Umsatz fuer den voellig ueberlaufenen Laden an der Ecke, ein super Maskenfest, an das sich die meisten zwar dunkel, aber gleichzeitig mit Freude zurueckerinnern, und volle Baeuche in Palmares.

Natuerlich sollte die Gruppe nach dieser Art Einweihungsfeier nicht wieder ausseinanderdiffundieren und so entschloss man sich dazu, regelmaessig woechentliche Gruppensitzungen einzuberufen, um aktuelle Geschehnisse und Ideen zu besprechen. Auf diese Weise wurde kuerzlich mit der Planung zum Hausbau fuer die Familie eines Maedchens unserer Gruppe begonnen. Deren aktuelle Behausung kann man gut mit "einsturzgefaehrdete, schiefe Lehmhuette" beschreiben, die eigentlich nur von den Moebeln an den Waenden etwas Halt bekommt. Der Spatenstich wurde bereits gesetzt und der Grundriss im Boden abgegraben. Das Problem besteht nun darin, die Beteiligung der Gruppe aufrechtzuhalten, bis das Haus wirklich fertig ist. Aus Zeitproblemen laesst sich der Bau nur an Sonntagen durchfuehren und das macht es schwierig, den ein oder anderen zu motivieren, mit anzupacken. Doch die Zuversicht besteht!
Ueber unsere neuen Freunde wurden wir mit der Zeit ins Leben dieses Dorfes integriert. So kennt man mittlerweile die bahianische Koechin von der Ecke, den Friseur fuer 1,50 Euro, den Supermarkt (Wein ist billiger als Wasser), den Playstationraum und nicht zu vergessen die fuenf verschiedenen Kirchen im 5000 Einwohner-Oertchen. Aber auch die offenkundigen Probleme fallen uns natuerlich ins Auge und da ich es als Weltwaertsentsendeter als meine Aufgabe verstehe, die Tuer fuer andere Realitaeten auch nach Deutschland zu oeffnen, moechte ich darauf ein wenig naeher eingehen.

Eigentlich hat der gesamte Ort keine wirkliche Wassersversorgung. Viele Einwohner holen ihr Wasser mit Hilfe von Eimern aus einem Fluss oder aus (teils verschmutzten) Brunnen, nur einige Strassen sind ans oeffentliche Trinkwassersystem angeschlossen, das sich im uebrigen manchmal wochenlange Auszeiten goennt. Die hygienischen und somit gesundheitlichen Risiken hieraus sind unuebersehbar. Zusaetzlich dazu wird dies dadurch verschlimmert, dass eine Kanalisation nicht existiert. Abwaesser aller Art werden ungeklaert in die umliegenden Gewaesser abgeleitet. Gewaesser, in denen gebadet wird. Gewaesser, aus denen getrunken wird.

Kommen wir zur Abfallentsorgung. Eine kleine Anekdote hierzu: Eines Tages goennte ich mir ein Wasser in Palmares. Natuerlich gibt es dies hier NUR in Plastikflaschen abgefuellt, noch dazu NUR in 500ml Flaschen - welchen Vertrag die Getraenkehersteller mit der Kunststoffindustrie abgeschlossen haben, moechte ich gar nicht erst wissen. In jedem Fall aber hat die brasilianische Politik an diesem Punkt noch viel Potenzial nach oben, bzw. sind noch einige Korruptionsfaelle in einigen Umweltministerien in einigen Bundesstaaten abzuarbeiten. Nun genoss ich also diesen edlen Tropfen bei knapp 40 Grad im Schatten und ehe ich mich versah, war mein Lebenselixier auch schon zur Neige gegangen. Als beispielgebender, umweltbewusster Buerger blickte ich mich nun auf der belebtesten Strasse des Dorfes nach einem (Plastik)Muelleimer um. Leider wurde ich nicht fuendig. Meinem von Ratlosigkeit gezeichneten Gesicht, entgegnete ein Junge der Jugendgruppe, obendrein Mitglied der "Naturschutz-Jugend" von Terra Mirim, ich solle den Muell einfach auf den Boden werfen. Ein kurzer Blick zur Seite machte mir klar, dass diese Praxis im Dorf wohl schon lange gaengig ist, dennoch wollte ich zumindest den Grund von meinem Gegenueber erfahren, der wie folgend lautet: "wenn wir Muell auf den Boden werfen, haben unsere Freunde eine Arbeit und koennen Geld verdienen, in dem sie ihn wieder aufheben." Waeren da nicht die vielen Muecken und Strassenhunde, welche sich vom Abfall ernaehren und so Krankheiten verbreiten, ganz abgesehen vom Gestank und des nicht gerade aesthetischen Anblicks, den man auf keiner Postkarte aus Brasilien zu Gesicht bekommt.

Eine andere Tatsache wird Palmares leider haeufig zum Verhaengnis: das Dorf liegt an einer grossen Bundesstrasse und wird durch diese in zwei Teile geteilt. Denn eine Ampel gibt es nicht und die Strasse fuehrt vollkommen geradeaus durch den Ort. In der Vergangenheit kamen nicht wenige Einwohner bei dem Versuch um, die Strassenseite in ihrem Dorf zu ueberqueren. Kein Wunder - beim zeitweise ununterbrochenen Verkehrsstrom bei Tempo 70. Auch ein aelteres Mitglied der Jugendgruppe ist querschnittgelaehmt - er wurde von einem Auto in Palmares angefahren. Aus diesen Gruenden gab es eines Morgens in Palmares einen grossen Protest mit Vollsperrung der Strasse und dem halben versammelten Dorf darauf. Erwirkt hat dieser zumindest, dass am Ortsein -und ausgang kleine Betonhuegel den ungebremsten Durchverkehr behindern. Dieses Geschehen fand vor der Zeit statt, als Dilan und ich hier angekommen sind. Doch die Tatsache, dass der achtjaehrige Sohn unserer geliebten Jugendgruppenleiterin Mitte November, auf dem Buergersteig laufend, ueberfahren und lebensgefaehrlich verletzt wurde, zeigt uns, dass die Thematik hier noch lange nicht geloest ist. Gluecklicherweise geht es dem Jungen wieder gut und er wird Anfang Januar wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden koennen!

Eine andere Quelle des Unmuts ergibt sich zusaetzlich durch die unmittelbare Naehe zur Strasse: die Durchreise von ungebetenen Gestalten aus anderen Gegenden Bahias. Vor allem in der Vorweihnachtszeit - jeder braucht ein Geschenk - wurden direkt an der grossen Strasse einige Autos und Motorraeder gestohlen, sowie ein Supermarkt ueberfallen. Aufgrund der Ferne zwischen dem Sitz der naechsten Polizeistation in Simoes Filho und dem Aussendistrikt Palmares kam die gerufene Polizei regelmaessig eine Stunde nach den Geschehen am Ort an, was natuerlich auf Dauer auch keine Loesung sein darf. Vor zwei Wochen wurde nun zusammen mit dem Major der Polizei in Simoes Filho und etwa 50 Vertretern der in den Aussenbezirken des Stadtgebiets lebenden Menschen (Entsandter von Terra Mirim - Max S.) eine Sicherheitskonferenz einberufen, um den Problemen auf den Grund zu gehen. Da die Polizei mit nur 150 Einsatzkraeften ein riesiges Gebiet einer in die laenge gezogenen 150.000 Einwohnerstadt kontrollieren muessen, gibt es von deren Seite leider absolut nicht viel zu erwarten. Eine anonyme Hotline wurde eingerichtet und, eine gute Sache, ein Sicherheitsrat aus engagierten Buergern gegruendet. Dieser wird nun woechentlich tagen, mit der Polizei in Kontakt stehen, Informationen austauschen und gleichzeitig aber in den umliegenden Doerfern alle Geschehnisse geordneter dokumentieren.

Ein sehr interessanter Prozess wird hier meiner Meinung nach in Gang gesetzt, weil, aehnlich wie bei den noch nicht lange vergangenen Strassenprotesten, neuerdings die Solidaritaet der Mitmenschen untereinander angekurbelt wird. Der Dialog unter den Bewohnern wird gestaerkt und ein oeffentliches Bewusstsein entwickelt, was sich in naher Zukunft auch politisch aeussern soll. Abgesehen von einer weiteren erfolgreichen Strassensperre im Dorf als Zeichen des Protests gegen eine illegale Chemikalienverkippung im angrenzenden Wald, bestehen endlich Initiativen zur Mobilisierung fuer eine gemeinsame Stimme nach einer vernuenftigen Wasserversorgung. Dilan und ich versuchen, so viel wie moeglich von diesen Prozessen mitzuverfolgen und eine Art Dialogschnittstelle ueber die fachkundigen Buergerrechts -und Umweltexperten in Terra Mirim mit den Einwohnern Palmares zu fuellen. Da wir schliesslich auch im Projekt mit einer anderen Jugendgruppe arbeiten, gibt es einen regen Informationsaustausch.

Eine durch uns Deutsche mitgeplante, erst wenige Tage alte, Protestinitiative hat ca. 30 Jugendliche aus der Region und Terra Mirimvertreter vor die Tueren des Rathauses der Stadt gefuehrt. Dort bereiteten wir uns auf einen Protest gegen ein zwielichtiges neues Umweltgesetz vor - die erste "Demonstration" hier seit Menschengedenken! Mit der noetigen Ruhe und einem organisierten Gespraech zwischen dem Umweltminister und fuenf Vertretern aus unseren Reihen konnten so Schluesselforderungen zum Thema der Buergerbeteiligung an Umweltfragen ins neue Gesetz aufgenommen werden. Ein grosser Erfolg, auch wenn, zum Unmut mancher Demonstranten, die gemalten "Keine Demokratie" - Plakate erst einmal eingerollt blieben. Wer dazu mehr lesen moechte, kann gerne auch einmal HIER VORBEISCHAUEN. Wie man sieht, tut sich einiges im Vale do Itamboata und in Palmares! Ich persoenlich bin der Meinung, dass vor allem der letzte Abschnitt dieses Berichts genau das wiederspiegelt, was ich unter "Weltwaerts" verstehe. Demokratieverdruss in Buergerinitiativen abfliessen zu lassen, Realitaeten aktiv zu vergleichen, Flugblaetter zu verteilen, gemeinsam die Probleme anzugehen - das ist ein Freiwilligendienst im Sinne der Voelkerverstaendigung.
Und genau deshalb schaetze ich diesen neu dazu gewonnenen Aufgabenbereich auch so sehr, wie kaum etwas anderes hier.
Und genau deswegen ist Palmares fuer mich auch ein wunderbarer und liebenswuerdiger Ort, an dem es ausserdem wunderbare Menschen gibt. Palmares gibt uns Allen etwas zurueck, anstatt, wie wir Deutschen uns leider des Oefteren anhoeren mussten, im Uebermass in seinen Problemen zu versinken!

Teil 1 - Einblicke ins Gesundheitssystem
Teil 2 - Palmares, ein Dorf wehrt sich
Teil 3 - Salvador da Bahia
Teil 4 - Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

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