Donnerstag, 17. Dezember 2009

Kapitel 3 - Vorwort

Hohoho, frohe Weihnachten ruft es aus Brasilien!

Nach einigen Wochen schriftlicher Abstinenz meinerseits, gibt es nun wieder einiges zu lesen aus dem sommerlichen Terra Mirim. Sehr viel hat sich getan seit Ende Oktober und wir deutschen Freiwilligen wurden gerade zu in den Dschungel dieser etwas anderen Gesellschaft hineingesogen. Aufgrund der Fuelle von Dingen, die ich erzaehlen moechte, werden die Berichte der besseren Uebersicht halber in vier Themen aufgeteilt. Diese befinden sich im Blog unterhalb dieser Inhaltsuebersicht.
Folgendes werde ich nun genauer beschreiben:
- Ein Intermezzo mit dem brasilianischen Gesundheitssystem ergab sich im November
- Ausserdem gab es noch eine gemeinnuetzige Halloweenfeier und weitere Aktivitaeten unserer Jugendgruppe im geliebten Nachbardorf Palmares
- Ebenso widmen wir uns der wahlweise alternativ-afrikanischen oder molochigen Millionenstadt Salvador aus verschiedenen Perspektiven
- Wer die brasilianischen Fussballspieler in Deutschland betrachtet, dem faellt auf, dass sie beim Torjubel gerne die Haende zum Himmel strecken und dabei ihr Jesusfoto unter dem Trikot entbloessen - der Einfluss der christlichen Kirche in Brasilien ist

Ich hoffe, es gibt noch interessierte Leser, die trotz der fast zweimonatigen Entbehrung hin und wieder einmal reinschnuppern und sich ueber den Dienst, der mir mittlerweile doch sehr Freude macht, informieren. In diesem Sinne wuensche ich eine frohe Weihnacht nach Deutschland, nicht zu vergessen einen guten Rutsch.
Ich selbst verreise ueber diese Zeit mit meiner Mutter in den Sueden Brasiliens, was wohl Gegendstand meines naechsten grossen Berichts sein wird.

Herzliche Gruesse aus Bahia,
Max

Kapitel 3 - Teil 1: Einblicke ins Gesundheitssystem

"Als Max Stammnitz eines Novembermorgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er seinen Ruecken in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Nicht nur der rot-gepunktete Ruecken, auch die Rueckseite meiner Beine hatte sich unter starkem Juckreiz dem Muster meines Tour de France - Bergtrikots angepasst. Auch meiner deutschen Projektpartnerin Dilan machten schon laenger eiternde Pusteln an den Fuessen zu schaffen, so dass wir uns genoetigt sahen, nun einen Dermatologen aufzusuchen. Auf Rat einer Medizinerin, welche oefters in Terra Mirim zu Besuch ist, wendeten wir uns an einen Hautarzt in Salvador und bekamen auch prompt einen Termin fuer den Folgetag.

Das Verkehrschaos des morgendlichen Salvadors konnte uns an diesem Tag nicht viel anhaben, abgesehen von der Tatsache, dass uns der Bus auf der falschen Seite der sechsspurigen Strasse ohne Ampel aussteigen liess - die zum Ueberqueren notwendigen Kenntnisse konnten uns bisher weder die Capoeiraausbildung, noch der intensive Wunsch nach Wellensurftraining vermitteln. Trotz staendiger Sichtweite des Krankenhauses, betraten wir dieses deshalb mit Verspaetung. Bereits im Eingangsbereich nahmen wir jedoch wahr, dass dieses Hochhauskrankenhaus eher das Wort (Luxus-)"Hotel" verdient haette. Bewachte Parkplaetze, perfekt geschnittene Hecken und ein Springbrunnen vor dem blankgeputzten glaesernen Eingangsportal und das alles inmitten der stinkenden, lauten Millionenstadt - mit Panorama-Blick auf die riesigen Armenviertel ("Favelas"). Dieser wahnsinnige Kontrast bestaetigte sich kurz darauf noch eindrucksvoller, als sich unsere Fahrstuhltuer oeffnete und ein adrett-gekleideter Fahrstuhlfahrer uns netter Weise seine Dienste anbot.

In der wohlklimatisierten, mit Flachbildfernseher ausgestatteten Praxis des Dermatologen Dr. Martins angekommen, wurden wir freundlich von der Sekretaerin begruesst. Als zahlungsfaehiger Europaeer durfte man sich bereits im Vorraus einer 200 Reais (ca. 80 Euro) Eintrittsgebuehr erfreuen. "Separate but equal" sagte man in den USA bis Mitte des 20. Jahrhunderts wohl dazu.
Waehrend Dilan bereits beim Doktor vorgeladen wurde, nutzte ich die Zeit damit, einige Blicke durch das kleine Wartezimmer zu werfen und blieb mit Erstaunen bei einem grossen Werbeplakat stehen, aus dem hervorging: Dies ist gleichzeitig eine Praxis fuer plastische Chirurgie! Von der Botox-Spritze bis zum Silikonimplantat kann man so ziemlich alles in Anspruch nehmen. Ploetzlich glaubte ich, in jedem der (weisshaeutigen!) Gesichter in den komfortablen Wartesesseln eine Straffung im Gesicht zu erkennen. Und dann wieder der Blick aus dem Fenster auf tausende von schiefen Ziegelhuetten mit Wellblech. Ekelhaft.

Schlussendlich war dann alles ganz harmlos. Ein nachtaktiver Parasit hatte sich wohl ueber mein neues Bettlaken den Weg auf meinen Ruecken gebahnt. Mir wurden vom aeusserst netten Dr. Martins zwei - ausnahmsweise billige - Salben verschrieben und das Problemchen war nach einer Woche erledigt. Aber der Eindruck vom Gesundheitssystem bleibt: Wer zahlt, darf rein. Wer nicht zahlt, geht zu einem (kostenlosen) Krankenhaus fuer alle Anderen. Eine (marxistische) Klassengesellschaft?


Teil 1 - Einblicke ins Gesundheitssystem
Teil 2 - Palmares, ein Dorf wehrt sich
Teil 3 - Salvador da Bahia
Teil 4 - Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

Kapitel 3 - Teil 2: Palmares, ein Dorf wehrt sich

Seit geraumer Zeit nun, pflegen Dilan und ich oefters, bei unseren wochenendlichen Ausgaengen sowie abendlichen Anlaessen, das Nachbardorf Palmares aufzusuchen. Ein wenig Abwechslung vom ruhigen Paradiesgarten Terra Mirim kann zwei 20jaehrigen ja nicht schaden, dachten wir uns. Das Jugendgruppencamping vor einigen Wochen hat uns Deutsche in die Dorfgemeinschaft integriert, spaetestens bei der Aufnahmepruefung (Glas Spuelmittel mit Knoblauch, Zahnpasta....trinken) sind wir Teil der Familie geworden. Man lernte sich naeher kennen und, was mir meine Zeit hier seitdem deutlich bereichert hat, knuepfte Freundschaften mit einheimischen Jugendlichen ohne festen Bezug zu Terra Mirim.

So erfuhren wir nach und nach, dass diese Jugendgruppe unter der Leitung einiger End-20iger (zumindest laut Ausweis) noch in den Kinderschuhen steckt und aus dem Wunsch erwachsen ist, jugendliche Interessen mit sozialen Motiven zu verbinden, sowie gleichzeitig die Jungen und Maedchen von der Strasse zu holen, wo der Weg auf die schiefe Bahn geteert liegt. Gemeinsam wurde dann im Oktober ein tolles Halloweenfest auf die Beine gestellt: ein Partyraum, mit nahe gelegenem Regenwassertank bzw. Pool, wurde organisiert, genauo wie leckeres Essen afrikanischer Rezeptur. 250 Menschen sollten den "Saal" fuellen und ein DJ spielte Charthits von den Beatles bis Bushido (!). Und das beste an der Sache: die Eintrittsgebuehr - wahlweise ein Kilo Reis, Zucker, Bohnen, o.Ae. - wurde von allen erbracht, anschliessend gesammelt und am darauffolgenden Tag an beduerftige Familien verteilt. So profitierte das ganze Dorf davon: Umsatz fuer den voellig ueberlaufenen Laden an der Ecke, ein super Maskenfest, an das sich die meisten zwar dunkel, aber gleichzeitig mit Freude zurueckerinnern, und volle Baeuche in Palmares.

Natuerlich sollte die Gruppe nach dieser Art Einweihungsfeier nicht wieder ausseinanderdiffundieren und so entschloss man sich dazu, regelmaessig woechentliche Gruppensitzungen einzuberufen, um aktuelle Geschehnisse und Ideen zu besprechen. Auf diese Weise wurde kuerzlich mit der Planung zum Hausbau fuer die Familie eines Maedchens unserer Gruppe begonnen. Deren aktuelle Behausung kann man gut mit "einsturzgefaehrdete, schiefe Lehmhuette" beschreiben, die eigentlich nur von den Moebeln an den Waenden etwas Halt bekommt. Der Spatenstich wurde bereits gesetzt und der Grundriss im Boden abgegraben. Das Problem besteht nun darin, die Beteiligung der Gruppe aufrechtzuhalten, bis das Haus wirklich fertig ist. Aus Zeitproblemen laesst sich der Bau nur an Sonntagen durchfuehren und das macht es schwierig, den ein oder anderen zu motivieren, mit anzupacken. Doch die Zuversicht besteht!
Ueber unsere neuen Freunde wurden wir mit der Zeit ins Leben dieses Dorfes integriert. So kennt man mittlerweile die bahianische Koechin von der Ecke, den Friseur fuer 1,50 Euro, den Supermarkt (Wein ist billiger als Wasser), den Playstationraum und nicht zu vergessen die fuenf verschiedenen Kirchen im 5000 Einwohner-Oertchen. Aber auch die offenkundigen Probleme fallen uns natuerlich ins Auge und da ich es als Weltwaertsentsendeter als meine Aufgabe verstehe, die Tuer fuer andere Realitaeten auch nach Deutschland zu oeffnen, moechte ich darauf ein wenig naeher eingehen.

Eigentlich hat der gesamte Ort keine wirkliche Wassersversorgung. Viele Einwohner holen ihr Wasser mit Hilfe von Eimern aus einem Fluss oder aus (teils verschmutzten) Brunnen, nur einige Strassen sind ans oeffentliche Trinkwassersystem angeschlossen, das sich im uebrigen manchmal wochenlange Auszeiten goennt. Die hygienischen und somit gesundheitlichen Risiken hieraus sind unuebersehbar. Zusaetzlich dazu wird dies dadurch verschlimmert, dass eine Kanalisation nicht existiert. Abwaesser aller Art werden ungeklaert in die umliegenden Gewaesser abgeleitet. Gewaesser, in denen gebadet wird. Gewaesser, aus denen getrunken wird.

Kommen wir zur Abfallentsorgung. Eine kleine Anekdote hierzu: Eines Tages goennte ich mir ein Wasser in Palmares. Natuerlich gibt es dies hier NUR in Plastikflaschen abgefuellt, noch dazu NUR in 500ml Flaschen - welchen Vertrag die Getraenkehersteller mit der Kunststoffindustrie abgeschlossen haben, moechte ich gar nicht erst wissen. In jedem Fall aber hat die brasilianische Politik an diesem Punkt noch viel Potenzial nach oben, bzw. sind noch einige Korruptionsfaelle in einigen Umweltministerien in einigen Bundesstaaten abzuarbeiten. Nun genoss ich also diesen edlen Tropfen bei knapp 40 Grad im Schatten und ehe ich mich versah, war mein Lebenselixier auch schon zur Neige gegangen. Als beispielgebender, umweltbewusster Buerger blickte ich mich nun auf der belebtesten Strasse des Dorfes nach einem (Plastik)Muelleimer um. Leider wurde ich nicht fuendig. Meinem von Ratlosigkeit gezeichneten Gesicht, entgegnete ein Junge der Jugendgruppe, obendrein Mitglied der "Naturschutz-Jugend" von Terra Mirim, ich solle den Muell einfach auf den Boden werfen. Ein kurzer Blick zur Seite machte mir klar, dass diese Praxis im Dorf wohl schon lange gaengig ist, dennoch wollte ich zumindest den Grund von meinem Gegenueber erfahren, der wie folgend lautet: "wenn wir Muell auf den Boden werfen, haben unsere Freunde eine Arbeit und koennen Geld verdienen, in dem sie ihn wieder aufheben." Waeren da nicht die vielen Muecken und Strassenhunde, welche sich vom Abfall ernaehren und so Krankheiten verbreiten, ganz abgesehen vom Gestank und des nicht gerade aesthetischen Anblicks, den man auf keiner Postkarte aus Brasilien zu Gesicht bekommt.

Eine andere Tatsache wird Palmares leider haeufig zum Verhaengnis: das Dorf liegt an einer grossen Bundesstrasse und wird durch diese in zwei Teile geteilt. Denn eine Ampel gibt es nicht und die Strasse fuehrt vollkommen geradeaus durch den Ort. In der Vergangenheit kamen nicht wenige Einwohner bei dem Versuch um, die Strassenseite in ihrem Dorf zu ueberqueren. Kein Wunder - beim zeitweise ununterbrochenen Verkehrsstrom bei Tempo 70. Auch ein aelteres Mitglied der Jugendgruppe ist querschnittgelaehmt - er wurde von einem Auto in Palmares angefahren. Aus diesen Gruenden gab es eines Morgens in Palmares einen grossen Protest mit Vollsperrung der Strasse und dem halben versammelten Dorf darauf. Erwirkt hat dieser zumindest, dass am Ortsein -und ausgang kleine Betonhuegel den ungebremsten Durchverkehr behindern. Dieses Geschehen fand vor der Zeit statt, als Dilan und ich hier angekommen sind. Doch die Tatsache, dass der achtjaehrige Sohn unserer geliebten Jugendgruppenleiterin Mitte November, auf dem Buergersteig laufend, ueberfahren und lebensgefaehrlich verletzt wurde, zeigt uns, dass die Thematik hier noch lange nicht geloest ist. Gluecklicherweise geht es dem Jungen wieder gut und er wird Anfang Januar wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden koennen!

Eine andere Quelle des Unmuts ergibt sich zusaetzlich durch die unmittelbare Naehe zur Strasse: die Durchreise von ungebetenen Gestalten aus anderen Gegenden Bahias. Vor allem in der Vorweihnachtszeit - jeder braucht ein Geschenk - wurden direkt an der grossen Strasse einige Autos und Motorraeder gestohlen, sowie ein Supermarkt ueberfallen. Aufgrund der Ferne zwischen dem Sitz der naechsten Polizeistation in Simoes Filho und dem Aussendistrikt Palmares kam die gerufene Polizei regelmaessig eine Stunde nach den Geschehen am Ort an, was natuerlich auf Dauer auch keine Loesung sein darf. Vor zwei Wochen wurde nun zusammen mit dem Major der Polizei in Simoes Filho und etwa 50 Vertretern der in den Aussenbezirken des Stadtgebiets lebenden Menschen (Entsandter von Terra Mirim - Max S.) eine Sicherheitskonferenz einberufen, um den Problemen auf den Grund zu gehen. Da die Polizei mit nur 150 Einsatzkraeften ein riesiges Gebiet einer in die laenge gezogenen 150.000 Einwohnerstadt kontrollieren muessen, gibt es von deren Seite leider absolut nicht viel zu erwarten. Eine anonyme Hotline wurde eingerichtet und, eine gute Sache, ein Sicherheitsrat aus engagierten Buergern gegruendet. Dieser wird nun woechentlich tagen, mit der Polizei in Kontakt stehen, Informationen austauschen und gleichzeitig aber in den umliegenden Doerfern alle Geschehnisse geordneter dokumentieren.

Ein sehr interessanter Prozess wird hier meiner Meinung nach in Gang gesetzt, weil, aehnlich wie bei den noch nicht lange vergangenen Strassenprotesten, neuerdings die Solidaritaet der Mitmenschen untereinander angekurbelt wird. Der Dialog unter den Bewohnern wird gestaerkt und ein oeffentliches Bewusstsein entwickelt, was sich in naher Zukunft auch politisch aeussern soll. Abgesehen von einer weiteren erfolgreichen Strassensperre im Dorf als Zeichen des Protests gegen eine illegale Chemikalienverkippung im angrenzenden Wald, bestehen endlich Initiativen zur Mobilisierung fuer eine gemeinsame Stimme nach einer vernuenftigen Wasserversorgung. Dilan und ich versuchen, so viel wie moeglich von diesen Prozessen mitzuverfolgen und eine Art Dialogschnittstelle ueber die fachkundigen Buergerrechts -und Umweltexperten in Terra Mirim mit den Einwohnern Palmares zu fuellen. Da wir schliesslich auch im Projekt mit einer anderen Jugendgruppe arbeiten, gibt es einen regen Informationsaustausch.

Eine durch uns Deutsche mitgeplante, erst wenige Tage alte, Protestinitiative hat ca. 30 Jugendliche aus der Region und Terra Mirimvertreter vor die Tueren des Rathauses der Stadt gefuehrt. Dort bereiteten wir uns auf einen Protest gegen ein zwielichtiges neues Umweltgesetz vor - die erste "Demonstration" hier seit Menschengedenken! Mit der noetigen Ruhe und einem organisierten Gespraech zwischen dem Umweltminister und fuenf Vertretern aus unseren Reihen konnten so Schluesselforderungen zum Thema der Buergerbeteiligung an Umweltfragen ins neue Gesetz aufgenommen werden. Ein grosser Erfolg, auch wenn, zum Unmut mancher Demonstranten, die gemalten "Keine Demokratie" - Plakate erst einmal eingerollt blieben. Wer dazu mehr lesen moechte, kann gerne auch einmal HIER VORBEISCHAUEN. Wie man sieht, tut sich einiges im Vale do Itamboata und in Palmares! Ich persoenlich bin der Meinung, dass vor allem der letzte Abschnitt dieses Berichts genau das wiederspiegelt, was ich unter "Weltwaerts" verstehe. Demokratieverdruss in Buergerinitiativen abfliessen zu lassen, Realitaeten aktiv zu vergleichen, Flugblaetter zu verteilen, gemeinsam die Probleme anzugehen - das ist ein Freiwilligendienst im Sinne der Voelkerverstaendigung.
Und genau deshalb schaetze ich diesen neu dazu gewonnenen Aufgabenbereich auch so sehr, wie kaum etwas anderes hier.
Und genau deswegen ist Palmares fuer mich auch ein wunderbarer und liebenswuerdiger Ort, an dem es ausserdem wunderbare Menschen gibt. Palmares gibt uns Allen etwas zurueck, anstatt, wie wir Deutschen uns leider des Oefteren anhoeren mussten, im Uebermass in seinen Problemen zu versinken!

Teil 1 - Einblicke ins Gesundheitssystem
Teil 2 - Palmares, ein Dorf wehrt sich
Teil 3 - Salvador da Bahia
Teil 4 - Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Kapitel 3 - Teil 3: Salvador da Bahia

Wenn man sich einmal zwei Wochen Urlaub nehmen moechte vom stressigen deutschen Alltag, dabei noch ununterbrochen 35 Grad geniessen und etwas Neues erleben will, dann kann man scheinbar getrost in Salvador unterkommen. Aber sein Leben dort verbringen? Heute zaehlt die Metropole, von der man als Tourist meist kaum mehr als 1% der Oertlichkeiten zu sehen bekommt, knapp drei Millionen Einwohner, von denen ein sehr grosser Teil in einer der 99 Favelas beheimatet sind.
Aber wollen wir diese Mega-Stadt nicht voreilig beurteilen, sondern erst einmal etwas genauer und von mehreren Seiten unter die Lupe nehmen.

Zunaechst muss man sich vor Augen halten, dass in jedem Brasilien-Reisefuehrer Salvador und vor allem das historische Altstadtviertel - “Pelourinho” – nicht fehlen duerfen. Im Gegenteil: abgesehen vom Zuckerhut und der Jesusstatur in Rio de Janeiro ist es wohl der am meisten angepriesene Ort dieses riesigen Landes. Dass sich Unmengen an Touristen jede Woche durch die engen Gassen draengen, hat sich auch unter den Einheimischen bis in den letzten Winkel Brasiliens durchgesprochen.

So werfen wir uns also in Touristenschale und schlendern im Ottonormaloutfit - Gomez-Trikot, Adiletten und Badehose – durch die historische Altstadt Salvadors.
Als interessierter Deutscher habe ich mich natuerlich vorher gruendlich informiert ueber dieses Viertel: Zur Zeit des Atlantischen Dreieckhandels (ca. 1680-1888) wurden unzaehlige Sklaven aus Westafrika nach Brasilien verschleppt, die auf den Reis-, Kakao-, Baumwoll -und Zuckerrohrplantagen der Nordoststaaten die agrikulturelle Wachstumsgrundlage fuer das expandierende und sich industrialisierende Europa legten. Die geographische Lage der Allerheiligenbucht, als einer der am naechsten an der westafrikanischen Kueste liegenden Punkte Suedamerikas, sowie schier endlose ungenutzte Landflaechen im Hinterland Bahias, trugen dazu bei, dass sich ein profitables, fast ausschliesslich auf Sklavenarbeit gestuetztes Kolonialreich unter der portugiesischen Krone etablieren konnte. Und Salvador wurde so zum Eintrittstor und Handelszentrum fuer dieses ausbeuterische und unmenschliche Treiben des fruehen Brasiliens.
Oberhalb von einer Steilkueste gelegen und mit wundervollem Blick auf die „Baia dos Todos-os-Santos“ ausgestattet, enstand langsam diese Stadt mit den vielen, reich mit Gold verzierten Kirchen und dem Aufzug, der zur Hafenstadt und zum Sklavenmarkt hinabfuehrt. Bis 1763 war das damals hauptsaechlich auf das Pelourinho begrenzte Salvador sogar Hauptstadt der brasilianischen Kolonie.
Nachdem das moerderische Geschaeft erst 1888 – also sehr spaet – sein Ende genommen hatte, setzte ein breiter kultureller Wiederfindungsprozess bei der nun befreiten afrikanisch-abstaemmigen Bevoelkerungsmehrheit in Bahia ein, denn zur Sklavenzeit waren Religionsausuebungen, Gebrauch der afrikanischen Muttersprache und Gesang natuerlich verboten. Dies hatte zum Verlust einer Jahrtausende alten Kultur gefuehrt. So entwickelte sich in der Fruehphase des 20. Jahrhunderts nun mehr eine Mischkultur aus verschiedensten abendlaendischen und afrikanischen Einfluessen. Angefangen vom Capoeira, ehemals eine Verteidigungskampftechnik im Sklavenkrieg, ueber die afro-brasilianischen Trommelmusikstile bis zu den vreschiedenen Mischreligionen - vieles ist auch heute noch auf den Pflastersteingassen zwischen den engen Haeusern des Pelourinhos quicklebendig!
Dass diese kleine, bunte und verwinkelte Altstadt heute DAS Kulturzentrum Nordostbrasiliens ist, ist lustigerweise aber gar nicht so selbstverstaendlich. Bis in die Neunzigerjahre war das Viertel schrittweise immer weiter zu einer Favela verkommen – viele drogenabhaengige Bewohner, organisierte Kriminalitaet und verfallene Haeuser liessen keine Moeglichkeit zu, das „Pelô“ fuer Auslaender und die 99% der friedlebenden Brasilianer attraktiv zu machen. Dann nahmen sich die UNESCO und der Staat ein Herz und machten gemeinsam eine ordentliche Grundrenovierung der heruntergekommenen Strassen, Plaetze und Kirchen. Das Mietniveau stieg wieder und viele ehemalige Bewohner des Problemviertels Pelourinho zog es daraufhin in billige Siedlungen am Stadtrand, in die Unruhebezirke von Heute. Oberflaechlich wurden die Probleme also geloest, in Wirklichkeit aber nur ausgelagert.

Wer nun einmal das angepriesene Pelourinhogefuehl von Heute aus der Distanz zu fassen bekommen moechte, kann sich das super Musikvideo zu „They don`t care about us“ von Michael Jackson mit der Afrotrommelgruppe „Olodum“ ansehen, welches die Altstadt in all ihren (mit Computer bearbeiteten) Farben vibrieren laesst. Ein Werbekatalog Salvadors koennte genau diese Seiten nicht besser aufzeigen.

So, nun aber genug Geschwaetz, man will ja schliesslich hautnah die Pelô-Atmospaehre erleben. Tauchen wir also ein in diese etwas andere Welt. Ueber den kleinen Busbahnhof im Hafenviertel der Unterstadt und den bereits erwaehnten fast 150 Jahre alten Aufzug „Elevador Lacerda“ schummeln wir uns rein und spazieren sogleich durch das bunte Vergnuegen. Begruesst wird man sofort von einer Vielzahl an Musikrichtungen, die sich je nach genauem Standort vermischen koennen, da sich oft z.B. Bob Marley-Klaenge ins eine und liebesgesuelzte "Arrosha"-Rythmen ins andere Ohr verirren und eine gemeinsame, mitunter schaeusslich dissonante Kombination ergeben. Die Musikreviere sind offensichtlich, wie auch schon oft in Brasilien festgestellt, sehr nah beieinander markiert.
Im Pelourinho reiht sich ein Souvenirladen an den anderen (die Souvenirs hier sind super!), zusaetzlich gibt es auch viele Bierstaende, Acarajé (das – weit hergeholt - fettige bahianische Doenerpendant) und Popcorn an jeder Ecke. So wird man staendig von einer herben, scharf-wuerzigen Duftwolke umhaucht, solange man sich nicht in eine der nach Urin stinkenden Seitenstrassen verirrt.

Als ob diese Fuelle an Sinneseindrucken nicht schon genug waere, laufen dem leider nicht unauffaelligen, mit der Digitalkamera herumstolzierenden Deutschen staendig Menschen ueber den Weg, die einem, zunaechst kostenlos, Stoffbaendchen mit „tollen“ Spruechen ums Handgelenk binden wollen. Ein kleiner Smalltalk, „where are you from?...“, eine (ueber)nette brasilianische Begruessung und schon geht es ans Eigentliche. Denn nun wird man angefluestert und auf das reichhaltige Drogensortiment des doch so unscheinbaren Stoffbaendchenumbinders aufmerksam gemacht. Von Haschisch bis Crack ist alles im Sonderangebot. Wenn man dem Gegenueber dann zu verstehen gibt, dass man ungluecklicherweise eine truebe Nichtraucher- bzw. Nichtschnupferexistenz fuehrt, wundert der sich ziemlich. Allerdings bietet er einem dann freundlich an, ihm trotzdem Geld zu schenken. Nein, da hat er Pech gehabt. Ein „filho da puta“ muss man dann ueber sich ergehen lassen, das uebersetze ich aber lieber nicht fuer die Allgemeinheit. Laufen wir also unberuehrt weiter, an alten, verschachtelten Haeusern, (mittelmaessigen) Capoeiragruppen bis zu einem kleinen Plaetzchen.

Hier bietet sich dem Europaeer ein herrlicher, romantischer Ausblick. Denn die Sonne senkt sich im Westen hinter den Inseln der Allerheiligenbucht. Sie faerbt den Himmel rot und genauso die Daecher der Unterstadt mit ihrem kleinen Hafen vor der Steilkueste, an deren oberen Kante man sich befindet. Waeren da nicht die zwei aeusserst aufdringlichen Kinder, die einem die schoene Stimmung nach zwei Minuten sofort wieder vermiesen wuerden. Mit dreckigen Kleidern und schmerzverzerrtem Gesicht betteln sie um Geld fuer ein Essen. Ironischerweise nehmen sie die gerade frisch gekauften Acarajés nicht an. Ist da wohl jemand doch nicht hungrig? Die selben Kinder wird man in den Abendstunden an einer anderen Ecke des Pelourinhos wieder finden – (Crack) rauchend und trinkend und das mit geschaetzten zwoelf Jahren. Auch nach der x-ten Verneinung zum Thema „nur einen einzigen Real“ machen die Kids nicht locker und auch die vorbeilaufenden zwei Polizisten scheinen den Tourist wahrnehmend nicht wahrzunehmen, der sich mittlerweile durchaus belaestigt fuehlt. Also bleibt einem nur, diesen eigentlich sehr schoenen Platz zu verlassen und die Kinder abzuschuetteln. Stress!

Mir ist in meinen fuenf Monaten, die ich hier mittlerweile verbracht habe, keine Gegend in Brasilien so zwielichtig vorgekommen, wie eben das Herzstueck Salvadors. Es ist eigentlich unmoeglich, als hellhaeutiger Deutscher einen ganz normalen Spaziergang durch das Pelourinho zu unternehmen.
Taschen- und Handtaschendiebstaehle kommen sehr haeufig vor und wenn man so richtig Lust bekommt, einmal ordentlich ueberfallen zu werden, dann nimmt man wohl einfach nachts eine der kleinen, unbeleuchteten und ummauerten steilen Strassen abwaerts zum Hafenviertel. Als Heidelberger kann man sich das in etwa so vorstellen wie eine Vielzahl von „Schlangenwegen“ vom Philosophenweg zur Alten Bruecke. Nur eben ohne Garantie, heil am anderen Ende anzukommen. Auf diese Weise kann man sich die umgerechnet 0,07 Euro sparen, die der Fahrstuhl, der direkt zum Busbahnhof hinabfuehrt, kostet. Auf diese Treppenwege wird z.T. sogar mit kleinen Warnhinweisen und halben „Trennbarrieren“ aus Pressspanplatten hingewiesen, damit Touristen wie der nichts ahnende Gomez–Verschnitt nicht in die Falle tappen.

Also dann doch lieber noch ein bisschen oben bleiben im Pelourinho, ueber dem es mittlerweile Nacht geworden ist. An manchen Tagen wacht das Viertel nun erst richtig auf. Es geht zum „Praça José de Alencar”, dem steil-abfallenden Platz im bereits angesprochenen Michael Jackson Video. Dort finden oft Konzerte, Theatershows oder sonstige kulturelle Veranstaltungen statt. Bereits zwei Mal durfte ich in den Genuss kommen, der etwa 50 Mann + Saenger starken Afrotrommelgruppe “Olodum” zuhoeren zu duerfen. Unbeschreiblich gut ist das. Der ganze Koerper vibriert unter den Rythmen, waehrend gleichzeitg der Platz und die aufgewuelte Menge wiederhallt. Ein Konzert wurde sogar im Regen gebadet, doch die feierwuetigen Brasilianer stoerte das nicht und kurzerhand entschloss sich die Menge zum “eins, zwei, drei – Oberkoerper frei”. Und nicht nur die Maenner! Bei so viel nassem Spass, Bier und Hormonen in der Luft dauert es dann leider erfahrungsgemaess auch nicht lange, bis die ersten Schlaegereien in der Menge ausbrechen. Abgesehen von der nun regelmaessig unterbrochenen Musik durch die Band, kann nur ein grosses Polizeiaufgebot inmitten der Tanzwuetigen Schlimmeres verhindern.
Doch als dann vier Polizisten mit Schlagstoecken, Stiefeltritten, Ohrfeigen und Schlaegen auf die Brust einer einzigen Frau direkt vor meinen Augen die Spitze der Gewaltpyramide auszuloten begannen, war es an der Zeit zu gehen. 8 Uhr abends. Nun habe ich viel erlebt, was mir doch nach zu denken gibt.

Es ist wohl wie so oft in Brasilien: Gewalt, Armut und traurige Ernuechterung sind direkte Nachbarn von Lebenslust, Optimismus, Warmherzigkeit und Glueck.
Aber wie schon oben zu Beginn angekuendigt: das Pelourinho mit seinen zwei Dutzend Strassen macht einen verschwindend geringen Prozentteil der umgebenden Millionenstadt Salvador aus. Es waere irgendwie nicht gerecht, an dieser Stelle des Berichts aufzuhoeren. Schliesslich habe ich das Glueck, schon viele andere Orte kennengelernt zu haben, die es verdienen, erwaehnt zu werden.

Da waeren vor allem die unzaehligen Straende zu nennen. Salvador hat in dieser Hinsicht wohl eine der besten Lagen der Welt. Als Halbinsel in den Atlantik eintauchend, gibt es zwei zum Teil traumhafte, riesige sandige Kuestenlinien, welche an der Spitze Salvadors, dem Leuchtturm von Barra, zusammenlaufen. Die sich gen Westen oeffnende Allerheiligenbucht bietet ausserdem eine Vielzahl von ruhigeren Inselparadiesen, auf denen man ein gemuetliches Wochenende verbringen kann. Mit einem kleinen Schiffchen auf eine dieser Inseln umzusiedeln, das ist vergleichbar guenstig und geht schnell. ”Mir nichts, dir nichts” hat man die laute Grossstadt hinter sich gelassen und landet in einer gemuetlichen, seichten Bucht, in der nur vereinzelt Capoeira-Krieger den Sand aufwirbeln, oder die reicheren Brasilianer ihre dicken (ja, es ist klischeehaft!) Baeuche braeunen. Einen Ausflug auf die Halbinsel “Itaparica” ist jedem Salvadorurlauber zu empfehlen, die Fruechte auf den schnuckligen Booten sind sogar inklusive. Ausserdem besteht seit Kurzem das, meiner Meinung nach groessenwahnsinnige, Projekt der Landesregierung, in naher Zukunft eine Bruecke von Salvador nach Itaparica zu bauen - also einmal quer durch die Allerheiligenbucht – und das wird mit dem vermehrten Verkehrsaufkommen auch diese verbliebene Idylle eines Tages zerstoeren.

Kleine Anmerkung am Rande: anstatt Steuergelder fuer ein funktionierendes Schulsystem oder ordentliche Polizeischulen auszugeben, wird hier in ein Megaprojekt investiert, dass sich Kant im Grabe umdrehen wuerde. Wer weiss, ob der Aufsichtsrat der Baufirma nicht zufaellig im Parlament sitzt? Nun gut, jedenfalls kostet die wirklich sehr erholsame Tagesrundreise durch die Allerheiligenbucht im Moment 15 Euro pro Person – meine klare Empfehlung!

Zu Salvador selbst kann man keinen pauschalen Kommentar zum Badevergnuegen abgeben. Ganze 29 Stadtteile (!) grenzen an die Meereskueste. Manche Abschnitte sind mehr und manche weniger schoen. Oft fuehrt beispielsweise eine grosse, laute Verkehrsader direkt hinter dem sandigen Erholungsstreifen vorbei oder eine der stinkenden Kloaken bahnt sich ihren Weg ungeklaert ins Meer. Vorsicht muss man wohl an allen Straenden dieser Grossstadt beim Thema Wertsachen walten lassen! Es gibt genuegend “Capitães de areia” - zu Deutsch: Strandkapitaene -, also Kinder und Jugendliche, deren Lieblingssport es ist, den ahnungslosen Schwimmern Uhren, Geld und Kameras zu stehlen. Eine kleine Empfehlung guter Straende kann ich aber geben: Im Nordosten Salvadors, also in der Naehe des Flughafens, gibt es einige kokospalmengesaeumte Paradieslein mit schoenen Wellen und herumlaufenden Eis -und Sonnenbrillenverkaeufern. Diese Straende mit den Namen “Stella Maris”, “Vilas de Atlântico” oder “Praia do Flamengo” kommen zwar nicht ganz an jene weiter noerdlich ausserhalb der Metropole heran, bieten aber dennoch auf jeden Fall ein schoenes Karibikfeeling.
Was hat Salvador noch zu bieten? Man koennte noch eine poetische Rundreise durch die etwa fuenf Riesenshoppingcenter unternehmen, aber langweilen kann man sich auch anderswo.

Abschliessen moechte ich noch mit einer letzten lustigen Geschichte zum Thema "Salvador und seine Metro".
Das oeffentliche Verkersnetz ist bisher nur mit alten, lauten, stinkenden, kaputten Bussen ausgestattet, die ohne Fahrplan und Fahrzeiten quer durch die Stadt rasen. “Das soll sich aendern” verkuendete im Jahr 1999 der Stadtrat von Salvador.
Die Einwohner waren entzueckt ueber die wunderschoenen Bauentwuerfe einer S-Bahn in den Zeitungen, welche sich geradezu futuristisch zwischen den Daechern der vielen Hauchhaeuser durchschlaengelt und der unseeligen Verkehrslage Einhalt gebietet. Die Realisierung dieses Bauvorhabens sollte teilweise schon 2003 ihren Abschluss finden, aber irgendwie lief da wohl was schief. Anstatt in einem Rutsch die zwei Metrolinien komplett fertig zu stellen, entschied man sich zu einer Loesung mit Ratenzahlungen an die zustaendigen Baufirmen und damit verbundenen Teilabschnittsbaustellen. Der Finanzierungsausschuss der Stadt muss sich dabei aber maechig verzettelt haben. Denn das Geld fuer die Raten wurde bald schon sehr knapp.
So stand man dann am Anfang des neuen Jahrzehnts recht hilflos da. Einerseits waren kleinere Stueckchen der oberirdisch verlegten Gleiskonstruktion schon fertig gestellt, aber der Ausblick auf eine bald funktionierende Metro war erstmal dahin. Die erwarteten Laengen der Strecken wurden korrigiert - naemlich verkuerzt. Und dennoch zog sich der Bauprozess mit seinen staendigen Unterbrechungen immer weiter in die Laenge und hat auch heute noch kein Ende gefunden, nachdem die Eroeffnung Jahr fuer Jahr vertagt wurde. Ein Paradebeispiel schlampiger Planung. Jetzt beginnen bereits langsam manche Abschnitte, welche zu erst gebaut wurden, unbrauchbar zu werden. Den Witterungseinfluessen waren sie ueber die letzten zehn Jahre nicht gewachsen und auch um die Instandhaltung hatte man sich nicht grob fahrlaessig nicht gekuemmert. 30.000 Euro (80.000 Reais) muss die Stadtverwaltung monatlich ausserdem fuer die Miete der ungenuetzten Zuege aufbringen, die – naechster Planungsfehler – frueh gekauft wurden und jetzt nicht eingesetzt werden koennen. Eine Stadt hat sich bei ihrem Vorhaben offensichtlich ziemlich uebernommen.

Wer dazu mehr erfahren moechte, spricht am Besten einen Taxifahrer in Salvador zu diesem Thema an. Erfahrungsgemaess erhaelt man auf die Frage, was jener von der Verschleuderung seiner Steuern haelt, naemlich ein lautes “Meu Deus”, “Ave Maria” oder einfach nur ein schmunzliges Laecheln mit Ackselzucken. Heute, die Metro ist immer noch nicht fertig, darf sich der in Salvador lebende Brasilianer ja ausserdem auf eine neue Goldengatebridge nach Itaparica freuen! Ich komme dann mal so gegen 2020 wieder.

Bleibt also noch ein Fazit zu ziehen: Salvador ist eine Riesenmetropole, die schneller gewachsen ist, als sie wachsen durfte. Das historische Pelourinho und einige ueber den Rest der Stadt verteilte Kirchen, sowie die vielen schoenen Straende sind die Highlights. Es gibt Menschen, die schaffen es, sich ansonsten nicht nur durch den Laerm, die Gestankswolken, die offenkundige Armut vieler Stadtbezirke, die Hektik und die stellenabhaengige Gefahr aus der Urlaubslaune bringen zu lassen. Da muss jeder selbst wissen, wie belastbar er ist. Ich habe fuer mich persoenlich festgestellt, dass mir diese molochige Grossstadt zusetzt und mein Rythmus ein anderer ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich dort eben fast nie die ferienreife Mario Gomez–Touristenrolle eingenommen habe und von Anfang an auch die Schattenseiten der Stadt kennen lernen musste, die oft verdraengt werden.
Heidelberg hat fuer mich gewonnen.

Teil 1 - Einblicke ins Gesundheitssystem
Teil 2 - Palmares, ein Dorf wehrt sich
Teil 3 - Salvador da Bahia
Teil 4 - Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

Mittwoch, 9. Dezember 2009

Kapitel 3 - Teil 4: Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

Eine Stadtrundfahrt durch Simões Filho an einem Abend unter der Woche. Auf den Strassen ist nicht viel los, zumindest ein paar Hunde spazieren dem Auto ueber den Weg. Merkwuerdig eigentlich fuer eine Stadt mit fast 120.000 Einwohnern, also etwa der Groesse Heidelbergs. Denn mit Abend meine ich 19.00, vielleicht auch 20.00 Uhr. Irgendwie geisterhaft wirken die leeren Wege.

Doch halt! Da, an der Ecke kommt helles Licht aus einer grossen Haustuer. “Was es wohl damit auf sich hat?” frage ich meinen brasilianischen Sitznachbar und Fahrer. “Na, das ist eine Kirche - eine “Adventistenkirche” ! “Eine Adventistenkirche? Was ist das denn? Gibt`s die etwa nur im Dezember?” Er legt den Rueckwaertsgang ein und wir halten vor der Eingangstuer zu unserer Rechten.

Der mittelgrosse, blankgeputzte Raum - auf den ersten Blick sauberer als die meisten Haeuser hier - ist voll bis auf den letzten Sitzplatz, sogar an der Wand draengeln sich noch Leute. Und alle singen, wirklich alle. Ein hoerbar computerkomponiertes Kirchenlied wird mit kleinen Boxen in den Raum geworfen und gibt den Takt vor. Parallel dazu wird eine Powerpointpraesentation an die Wand geworfen: wunderschoene Naturaufnahmen aus Amazonien und der passende Liedtext am unteren Bildrand. Vor allem die vielen Kinder in den ersten Reihen geben ihr Bestes, dem Chor Leben einzuhauchen. “Jesus liebt dich, dein Kapitaen, er steuert dein Schiff, es wird nicht untergehen...”. Und bei bestimmten Passagen kann man fast schon von einer Choreografie sprechen, wobei alle ihre Haende in die Luft strecken und in Richtung Altar halten.

Wo hat man das schon einmal in Deutschland gesehen? Eine vollbesetzte Kirche an einem ganz normalen Wochentag. Vollbesetzt nicht mit einem Anteil von 80% ueber 50jaehrigen, sondern mindestens zur Haelfte mit Kindern! Und die haben einen Spass, unuebersehbar. Da wird viel gelacht und gestrahlt und brav dem Pastor geantwortet: “Wer ist Jesus Mutter?” - “MARIA!!!” Solche oder aehnliche Situationen sind mir in den letzten fuenf Monaten nicht selten begegnet. Und fast nie weiss ich, was ich nun eigentlich davon halten soll.
Da wird es mal Zeit fuer eine ordentliche Reflexion. Und die will ich mit den Lesern von meinem Blogg teilen, denn jeder der sich fuer Brasilien interessiert, kommt an diesem Thema nicht vorbei. Das folgende Unterkapitel war ein Versuch, einen moeglichst neutralen Gesamtueberblick zur Situation in meinem Umfeld geben, zu dem sich natuerlich jeder seine eigene Meinung bilden soll. Allerdings faellt mir nun im Nachhinein auf, dass der Text doch sehr durch meine eigenen Ideen und Meinungen geleitet wurde. Es ist offensichtlich schwierig, immer objektiv zu bleiben, wenn einem ein Thema auf dem Herzen liegt. Also eine Entschuldigung im Vorraus! Zunaechst einmal wieder die Fakten: etwa 70% aller Brasilianer bekennen sich zum katholischen Christentum und etwa 15% zum Protestantismus. Dabei muss aber gleich zu Beginn klar gesagt werden: Protestantismus in Brasilien hat stellenweise recht wenig zu tun mit der lutheranisch-evangelischen Kirche Mitteleuropas. Im Gegenteil: konservativ-bibeltreue Freikirchen, sog. “evangelikale” Bewegungen, sind weit verbreitet und laufen der katholischen Kirche – “Brasilien, das katholischste Land der Welt” – heute den Rang ab. Schaetzungen zu Folge gibt es mittlerweile etwa 35.000 Freikirchen in Brasilien, Tendenz weiter steigend. Da ich kein Kirchenexperte bin, will ich mich an dieser Stelle zum zweiten Mal im Vorraus entschuldigen. Was genau der Unterschied zwischen einer “normalen” Konfession und einer Freikirche ist, vermag ich nicht zu sagen. Genauso wenig koennte ich sagen, ob jetzt die “Adventisten”, “Dreieinigkeitskirchler”, “Universumschristen”, “Jesus-ist-der-Herr-Christen” oder die “Christenversammlung” Freikirchen oder sonstige Abspaltungen sind. Da kann im Folgenden also schon ein bisschen falsch durchmischt werden, was nicht durchmischt gehoert.

Um die Zahlen zu komplettieren: In Bahia noch sehr ausgepraegt ist eine polytheistische afrikanische Religion, die sich “Candomblé” nennt, dem auch manche Leute aus unserem Bekanntenkreis hier angehoeren. Insgesamt machen die Anhaenger dieser Religion immerhin 1,5% der Gesamtbevoelkerung Brasiliens aus. Menschen, die sich in diesem Land nicht zu einer Religion zugehoerig fuehlen, teilen dies nur mit einem sehr geringen Prozentsatz ihrer Landsleute, das ist wohl der groesste Unterschied zu uns in Deutschland. So nimmt der Glaube bei den meisten Menschen hier auch eine zentrale Bedeutung im Alltag ein. Seien es der regelmaessige Kirchenbesuch, ehrenamtliche Aktivitaeten im Rahmen der Gemeinde, das sich Beschaeftigen mit der Bibel oder einfach Gespraeche ueber Ansichten der verschiedenen Konfessionen bei einem Bier an der Strassenecke.

Alleine das 5000 Einwohnersdoerfchen Palmares hat sieben (kleinere) Kirchen und zwei Candomblé-“Tempel”. Und wie auch in Simões Filho, sind diese religioesen Orte sehr gut besucht. Oft kommen sogar grosse Busse vorbei, um Leute von ausserhalb zu Gottesdiensten oder Ritualen abzuliefern und bringen diese danach wieder nach Hause. In Heidelberg trifft man sich abends zum Ausgehen ins Kino, zum gemeinsamen Feiern, Essen oder Trinken in der Stadt – hier trifft man sich zum gemeinsamen Zuhoeren, Beten und Singen.

Aber ist es wirklich nur “beten und singen”? Klar, durch die vielen kirchensteuerzahlungswilligen Glaeubigen stehen den Gemeinden erstaunlich hohe Geldsummen zur Verfuegung. Auch die Aermeren sehen es als ihre klare Pflicht an, eine gute Tat ueber ihre Kirche zu finanzieren: ein Waisenhaus, einen Kindergarten, Essensspenden, usw. Wohl angemerkt aber sehr oft ein christliches Waisenhaus, ein christlicher Kindergarten oder ein Essen im Rahmen einer christlichen Veranstaltung. Und die Missionare aus den USA, die kostenlose Bibelauslegungsstunden fuer Indianer (in Mato Grosso erfahren) anbieten, kommen auch nicht alleine und ohne Finanzstuetzen zurecht. Gelder finden ihren Weg aber offensichtlich auch in die Kirchengebaeude selbst: in Palmares sind die verschiedenen Gotteshaeuser nicht nur die saubersten, sondern auch infrastrukturell - im Hinblick auf die Statik und elektrische Ausruestung - die besten Haeuser. Die “Dreieinigkeitskirchen” haben sogar alle ein Schlagzeug, Verstaerker, z.T. E-Pianos und andere teurere musikalische Geraetschaften im Angebot, auf denen tagsueber gelegentlich auch Unterrichtsstunden gegeben werden. Leisten kann sich solches Bandzubehoer eigentlich keiner der Einwohner.

In Punkto Finanzierung ist der Durchblick von Aussen nicht immer ganz einfach. Manche Leute haben mir beispielsweise erzaehlt, dass es Kirchen gibt, die sich ebenfalls als “evangelikal” bezeichnen, der Praxis nach aber die selben Eigenschaften des vorlutheranischen Katholizismus aufzeigen. Denn wenn man zu “Spenden” genoetigt wird, mit Bezug auf eine hoehere Wahrscheinlichkeit, nach dem Tod gen Himmel zu fahren, dann darf man von Ablasshandel reden. Inwiefern die Wirklichkeit an dieser Stelle mit den Erzaehlungen uebereinstimmt, mag ich nicht zu sagen, denn die Grenze zwischen “um eine Spende bitten” und “um eine Spende um der Seele im Jenseits wegen bitten” ist schliesslich fliessend.

Zweifellos haben die christlichen Verbaende jedoch durch ihre finanziellen Moeglichkeiten eine Machtstellung in Brasilien eingenommen, die in Deutschland keinen Vergleich findet. In den Medien - vor allem im Fernsehen - ist der Einfluss z.T. sehr gross, was die Berichterstattung in den Nachrichten angeht. Jeden Sonntag laufen auf X Kanaelen Gottesdienste im Fernsehen. Mit offensichtlich guten Einschaltquoten. Ein interessantes Beispiel, dass meine Mutter und ich waehrund unseres gemeinsamen Neujahrsurlaubs (Bericht folgt uebrigens noch) per Fernseher mitverfolgen durften, zeigt die Macht der Kirche vielleicht besonders gut auf: in Salvador wurde ein Kleinkind in ein Krankenhaus eingeliefert. Auf einer Roentgenaufnahme wurde festgestellt, dass der Koerper des Kindes ueber und ueber mit etwa vier Zentimeter langen Nadeln unter der Haut bestueckt war. Merkwuerdigerweise gab es aber keinerlei Einstiche auf der Haut. Auf jedem Zeitungscover, im Fernsehen, in den Internetnewstickern – tagelang: eine mysterioese Geschichte mit noch mysterioeseren Bildern schien in der Oeffentlichkeit gut anzukommen. Dann wurde spekuliert: Voodoo-Rituale, schwarze Magie und solche Dinge waren in aller Munde. Denn auch die aermsten brasilianischen Haushalte haben mittlerweile einen Fernseher. Nun wandelte sich dieses Raetselraten alsbald in eine Hetzkampanie um. In vielen Kirchen wurde das Thema dankbar aufgegriffen: “Die afrikanischen Religioesen sind barbarisch, menschenverachtend, eine Schande fuer uns.” Dabei machte man sich natuerlich nicht die Muehe, zwischen den vielfaeltigen afrobrasilianischen Religionen zu unterscheiden. “Alles in eine Schublade” war das Motto.
2000 Kilometer entfernt vom Geschehen, in Mato Grosso, also einer laendlichen Region im Landesinneren, interessiert viele Leute leider nicht, dass es riesige Unterschiede zwischen den traditionellen Religionen Westafrikas gibt. Dort und in vielen anderen Landesteilen Brasiliens werden nun einfach alle spirituellen Braeuche der schwarzen Bevoelkerung gemeinsam verteufelt. Und die Kirche, die sich diese Geschichte ueber ihre z.T. selbst mitfinanzierten TV-Programme schoen zurechtgeschneidert hat, predigt dann in den eigenen Gotteshaeusern gegen die “schwarze Gefahr”. Fuer mich persoenlich ist das schlichtweg eine sehr moderne Form von Rassismus. Ja, letztendlich hatte der Stiefvater des Kindes offensichtlich eine Verbindung zu einer Gruppe, die mit “dunkler Magie” experimentiert hat. Ein schlimmer Fall zweifelsohne und das Kind tut auch mir Leid. Aber darf ich vorsichtig einen Freund, der Teil der Candomblé-Religion ist, zitieren: ”Der Stiefvater hatte Verbindungen zu afrikanischer Religion, deshalb aber in keinster Weise zum Candomblé. Verbindungen hat die christliche Kirche uebrigens auch – zu Holocaustleugnern, zu Voelkermorden an den indigenen Bewohnern Sued –und Mittelamerikas und einem damit einhergehenden jahrhundertelangem Goldraub, zu den Kreuzzuegen, zur Nichtrehabilitierung Galileo Galileis bis 1992.” Das ist natürlich eine sehr überspitzte Rhetorik und polarisiert nicht weniger, als es die Fernsehkirche tun. Trotzdem: wir sollten es uns meiner Meinung nach nicht anmaßen, den moralischen Zeigefinger zu erheben und auf andere herabsehen.

Wo wir gerade beim Thema “Herabsehen” sind, hier eine kleine Anekdote dazu. Es sitzen etwa 30 Menschen in einem halbvollbesetzten Linienbus von Simões Filho, unter ihnen der Autor Max S.. Die meiste Zeit ist es eher ruhig, abgesehen vom Scheppern der Buskarosserie. In meine spannende Lektuere vertieft, merke ich zunaechst gar nicht, dass sich mein Vordermann langsam erhebt, umdreht und dann ein Buch mit einer Hand (wie zur Drohung) in die Hoehe haelt – die Bibel. Er beginnt nun zunaechst leise und eindringlich auf den versammelten Bus einzureden. Verwundert bin ich ja schon. Was er genau redet, kann ich nicht verstehen. Vor allem wenn er dann sein erhobenes Buch oeffnet, den Zeigefinger der anderen Hand wildgestikulierend darauf richtet und anfaengt, zu zitieren. Merkwuerdig allerdings, dass er laut liest und dabei ununterbrochen hin –und her blaettert. Die ganze Show muss er wohl – mehr oder weniger schauspielerisch ueberzeugend – auswendig gelernt haben. Mitten im normalen Satz schreit er dann auf einmal auf: “DEUS! DEUS! DEUS!” Ich spuere, wie meine Sitznachbarin zusammenzuckt unter dem ploetzlichen Tonwechsel und auch selbst fuehle ich mich nicht wohl, so einen – gefuehlt - Irren vor mir zu haben. Mit seinem mittlerweile verkrampft-steifen Zeigefinger zeigt er nun auf jeden einzelnen Mitfahrer, schreit dabei nun weiter herum: “JESUS! DEUS! MARIA!” Er laesst Flyer durch den Bus gehen und auch eine gebrannte CD mit ihm und seinen vielen Goldzaehnen auf dem Cover duerfen nicht fehlen. Was wuerde wohl in Heidelberg geschehen, wenn so jemand einsteigt und verbal losfeuert? Hier haben sich die Leute scheinbar schon daran gewoehnt, wortlos gehen die Flugblaettchen durch die Sitzreihen. Der Prediger bedankt sich nach gefuehlten 20 Minuten recht herzlich fuers Zuhoeren, bruellt in Duesenjetlautstaerke noch ein “MOEGE GOTT MIT EUCH SEIN!!!” ins Publikum vor ihm und steigt aus. Miterlebt habe ich das bestimmt schon fuenf mal. Was fuer eine verrueckte Welt.

Verrueckt auch dies: Eine befreundete, schon etwas aeltere Senhora lud uns kuerzlich zu ihrer Taufe ein. “Wow”, dachten wir, “eine Taufe ist ja schon ein besonderes Ereignis im Leben.” Die ganze Geschichte in Kurzfassung: nach einem drei-Stunden-Gottesdienst, der nichts mit dem Thema Taufe zu tun hatte, fragte der Pastor laut in die Menge “wer moechte denn gerne getauft werden?” 14 Leute meldeten sich schliesslich und wanderten nacheinander zu einer Art grossen Badewanne am Ende des Saales. Schoen nach der Reihe: eine kleine Segnung des Pastors, ein kurzer Tauchgang, ein Foto mit dem Pastor fuer die Familie - das wars. Die Massentaufe ging nach der zaehen Vorprozedur mit den vielen Powerpointsongs an der Wand recht schnell vorbei. Hatte ich mich anfangs noch ziemlich aufgeregt, dass die Kinder der Frau nicht an ihrem Taufgottesdienst teilnahmen, sondern lieber draussen herumlungerten, so war mir im Nachhinein klar, warum. Noch viel mehr, als mir am naechsten Tag dann ihr Sohn erklaerte, es sei ihre fuenfte Taufe gewesen. In der selben Kirche (Adventistengemeinde) wird uebrigens offenbar stark fuer den Vegetarismus gepredigt. Mir, der im naechsten Jahr sein 15jaehriges Vegetarierjubilaeum feiert, ist diese Idee natuerlich sehr willkommen. Schade nur, dass eigentlich dennoch alle, die diese Kirche besuchen, Fleisch essen. Warum das? Tja, Fleisch im Umkreis von Terra Mirim, der einzigen Vegetarierbastion (die Wachhunde ausgenommen), ist so guenstig, dass es sich kaum jemand leisten kann, darauf zu verzichten. Viele Leute haben ein Huhn, eine Ziege oder ein Laemmchen im Garten. Da muessen die Supermaerkte natuerlich die Preise ziemlich tief druecken, um ihr Fleisch an den Mann zu bringen. Den Tieren wird das nicht gefallen und auch die Adventistengemeinde predigt offensichtlich an der Realitaet vorbei. Soweit ist die Kirche also wohl nicht in der Alltag der Bewohner vorgedrungen. Aber, und nun komme ich zum letzten und meiner Meinung nach entscheidensten Teil dieses grossen Themas, an vielerlei anderen Stellen ist sie es.

Wie viele junge Frauen hier im Umkreis unter 20 Jahren ein Kind bekommen, diese Zahl wuerde mich sehr interessieren. Denn es sind mit Sicherheit einige. Liegt es daran, dass sie nicht aufgeklaert sind? Mit Sicherheit! Aber ist das wirklich der einzige Grund? Ich persoenlich hege meine Zweifel an dieser Sache. Denn die schwangeren Frauen sind nicht selten bereits verheiratet. Mit 18 Jahren zu heiraten ist gaengig. Und die Kinder sind ebenfalls nicht selten auch in diesem Alter schon gewuenscht.

Wie oft wurde ich z.B. von Kindern in unserer Oekologischen Schule gefragt, ob ich schon Papa sei oder zumindest Ehemann. Ein 19jaehriges Maedchen, die ebenfalls in der Schule mitarbeitet, will unbedingt dieses Jahr heiraten. Der Termin ist vorraussichtlich im Februar. Heiraten mit ihrem ersten Freund. Und wie schon gesagt: hier gruebelt dazu niemand “das ist doch noch sehr jung, schon in diesem Alter sein Ja-Wort zu geben.” Es ist einfach normal. Liegt es wirklich daran, dass die Jugendlichen hierzulande so frueh (“bis dass der Tod euch scheidet” )mit ihren Partnern zusammen bleiben moechten? Jede blond-blauaeugige Frau, die einmal durch Salvador laeuft, wird das wohl verneinen, hat sie doch mindestens fuenf “Anlockungspfiffe” hinter sich vernommen. Und das von Maennern jeglicher Altersklasse und manchmal auch von Maennern, auf deren Schoss gerade eine Frau sitzt.
Also gehen wir dann doch davon aus, dass die Leute es mit der Liebe hier gelegentlich nicht ganz so genau nehmen. Und trotzdem so frueh heiraten - wie kann das sein?

In Brasilien, oder zumindest in unserem Vale do Itamboatá hier, fuehrt der Weg eines frisch verliebten Paerchens unweigerlich ueber die Familien der Partner zum Glueck. Mutter und Vater muessen sozusagen das Glueck ihrer Kinder “absegnen”, damit es keine Probleme gibt. Klar, in Deutschland interessiert es die Eltern auch, wohin das Herz des Sohnes oder der Tochter abdriftet. Aber wenn der Partner oder die Partnerin keine totale Pflaume ist, mischen sie sich bei ihrem 20jaehrigen Sproessling doch nicht in seine Beziehung ein nach dem Motto “die kommt hier nicht ins Haus” (oder?). Da kann es also beispielsweise hier vorkommen, dass eine Familie versucht, Informationen ueber den anderen Partner und seine Familie einzuholen: - aber nicht, indem man das eigene Kind dazu befragt, sondern ueber Freunde, Bekannte und deren Bekannte. “Ist der Partner eine treue Seele?”, “Hat er gute Manieren?”, “Kleidet er sich gut?”, “Trinkt er?”, “Geht abends am Wochenende er brav in die Kirche?, in UNSERE Kirche?” Ja, soweit kann es kommen.

So geschehen bei einer Freundin von Dilan und mir. Jene war mit einem 18jaehrigen Jungen zusammen gekommen, dessen Eltern einer evangelikalen Gemeinde angehoeren. Leider ist ihre Familie aber katholisch, was hier lustigerweise - im Gegensatz zu Deutschland – als liberal gilt. Auch ihr sehr rockiger Klamottenstil schien den Eltern des Partners alles andere als zu gefallen. Also wurde die Liebe kurzerhand nicht gestattet. Die Familie der Partnerin laesst den Jungen natuerlich erst recht nicht ins Haus. Da bleibt eigentlich nur ein Ausweg: “heimliche” Liebe. Das klingt irgendwie hollywoodangelehnt. Oder etwa doch die Heirat und eine damit verhoffte Unabhaengigkeit vom Urteil der Eltern als Loesung? In diesem Falle ist es gluecklicherweise (oder ungluecklichweise) nicht so weit gekommen.

Die sexuelle Revolution nach europaeischem Vorbild hat in Brasilien nicht stattgefunden. Denn zu dieser Zeit herrschte hier die Hochzeit einer Militaerdiktatur, die sich bis in die spaeten 80er Jahre fortziehen sollte und die damaligen Generaele haben die Studentenunruhen in ihrem Keim erstickt, politische Saeuberungen und Aehnliches inklusive. Das konservative Familienbild wurde also im geschichtlichen Verlauf niemals wirklich angegriffen oder in Frage gestellt, wie es bei uns in Deutschland der Fall war. Das Urteil ueber den Partner oder die Partnerin sprechen die Eltern.
Dann muss man sich schoen gekleidet in seiner neuen Familie vorstellen, einen guten Eindruck hinterlassen und bescheinigen, dass man sich gut um seine Liebste oder seinen Liebsten kuemmert.

Und Fakt ist, dass die Konfession des “neuen Familienmitglieds” bei diesem Kennenlernprozess oft eine wichtige Rolle spielt. Man weiss als Eltern Bescheid ueber die anderen Kirchengemeinden im Dorf. Schliesslich wird in der eigenen Kirche ueber die anderen erzaehlt und die Bemuehungen, sich abzugrenzen sind deutlich. So hat jede Kirche ihre eigene Doktrin. Die “Christenversammlung” schreibt sich beispielsweise auf die Fahne, dass ihre Mitglieder keinen Alkohol trinken und mit der Kleidung nicht das andere Geschlecht reizen (also keine Rockerlaubnis fuer Frauen und aehnliche Spaesse.). Gerechtfertigt wird dies durch bestimmte Bibelpassagen. Die “Adventisten” sind zumindest auf dem Blatt Vegetarier und ehren den Samstag. Die “Dreieinigkeitskirchler” sind die eifrigsten Kirchenliedersinger. Das Selbstverstaendnis zum eigenen Glauben wird insgesamt sehr hoch gehalten und fliesst mit ein in eine Art Familienehre. Und da muss der neue Partner des Kindes ins Bild passen.

Man stelle sich vor, nach einigen Monaten harter Eingewoehnungszeit fuer die Verwandten bemerkt das Paerchen, dass es mit der Liebe doch nicht so gut passt, trennt sich und einer findet einige Zeit spaeter einen anderen Partner. Vor allem in einem kleinen Dorf wird dann an jeder Ecke getuschelt und gelaestert, denn schliesslich kennt jeder jeden und alle haben ihre Geschichten. Dann fuehlen sich die beteiligten Familien angegriffen. Und dann die beteiligten Kirchen. So fuehrt das vielleicht alles noch weiter zu einer Abgrenzung untereinander. Wollen wir aber nicht zu weit abheben und kein pauschales Urteil faellen. Sicher gibt es in Brasilien solche und solche Familien. Ich spreche hier auch deutlich vom Dorfleben, in einer Grossstadt wie Salvador sieht die Sache sehr wahrscheinlich anders aus.

Dennoch: heimliche Liebhabereien, Scheinehen, Untreue, eine Frau mit fuenf Kindern von vier Maennern, sehr fruehe Schwangerschaften und eben auch das Heiraten mit 18 Jahren – alles haben wir hier schon gesehen. Und es ist also womoeglich mitverursacht durch eine tiefverwurzelte, in irgendeiner Weise an den Glauben gekoppelte Familienehre. Jene nach Aussen zu praesentieren geht gelegentlich vor das persoenliche Glueck der jungen Menschen.

Das Leben kann man komplizierter machen, als es wirklich ist. Wie waere es stattdessen mit "Carpe Diem"?
Achja: Und einen grossen Dank an die 68er Revolution in Deutschland.
Teil 1 - Einblicke ins Gesundheitssystem
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Teil 3 - Salvador da Bahia
Teil 4 - Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?