Donnerstag, 29. Oktober 2009

Kapitel 2: Weltwaerts werden

Einen sonnigen Gruss aus Terra Mirim!

Nach ereignisreichen Wochen moechte ich wieder einmal etwas erzaehlen vom Leben auf der anderen Seite des grossen Meeres.

Waehrend in Europa der Winter einbricht, Kernkraft wieder trendy ist und Guido "das ist Deutschland" Westerwelle Aussenminister wurde, durften 200 Millionen Brasileiros und Brasilieras feiern und zusehen, wie ihrem geliebten Praesidenten "Lula" in aller Oeffentlichkeit die Traenen ueber die Wangen kullerten. Was war geschehen? Olympia 2016 - Rio de Janeiro, es war Wirklichkeit geworden! Das erste Mal in der olympischen Geschichte kommt die Welt des Sports nach Suedamerika. Und Obamas Chicago erging es nicht anders als Stuttgart 2012. Als ob das nicht schon genug waere, gibt es fuer die verwoehnten Brasilianer noch die Fussball-WM 2014 als Sahnehaeubchen oben drauf (die Bewerbung fuer die olympischen Winterspiele laeuft bereits). Im folgenden Jahrzehnt ist fuer mich also urlaubstechnisch schon einiges entschieden, bzw. die sportlichen Ziele gesetzt. Aber nicht nur im Vergnuegungsgeschaeft ist meine neue Heimat im Oktober aktiv geworden: auch politische Signale wurden gesetzt. Stichwort 350. Wer meinen letzten Eintrag / die Rundmail gelesen hat, wurde am Wochenende vielleicht positiv ueberrascht von der Medienresonanz dieses weltweiten Klimatags. Tausende von Fotos, die die Zahl der benoetigten CO2-Konzentration in unserer Luft - 350 ppm - quer ueber den Erdball verteilt in verschiedensten Varianten darstellt, wurden schon gesammelt. Laut den Betreibern der Bewegung war der Tag ein voller Erfolg! In den naechsten Tagen wird nun versucht, den gewonnenen Zugang zum Bewusstsein ueber die Zukunft unseres Planeten in Druck auf unsere gewaehlten Volksvertreter umzuwandeln. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie sich die Dinge bis zum 7. Dezember, dem Eroeffnungstag der Weltkilmakonferenz in Kopenhagen, erntwickeln.

Ein Foto hat auch Terra Mirim beigesteuert. Im Rahmen des dreitaegigen EcoArt-Festivals in der Fundação wurde von zwei technisch begabten, jungen Frauen eine Seite des Gebaeudes der Umweltabteilung ("Ambiental") wunderbar bemalt. Der jaehrlich steigende CO2-Gehalt - grafisch dargestellt und benachbart vom Umriss einer riesigen Zahl 350. Jeder durfte einmal seine Hand bepinseln und dann bildlich sein Siegel ins Innere der Nummer setzen. Wie man dem Foto entnehmen kann, haben sich einige daran beteiligt. "EcoArt", da war doch was. Diese dreitaegige Veranstaltung findet einmal pro Jahr auf dem Gelaende der Fundacão statt. Alle Leute, Gross und Klein, aus dem "Vale" werden eingeladen, ein Wochenende voller Freude, Kunst und Umweltthemen hier mit zuerleben -und gestalten. Capoeiravorfuehrungen, ein Umwelt-Poet (ja, das gibt es!), Tanz -und Musikshows der Oekologischen Schule von Terra Mirim, ein Auszug aus einem Theaterstueck in einer psychiatrischen Anstalt und diverse Sambarunden sollten keine Langeweile aufkommen lassen. Alles unter dem Motto "Eu sou a teia da vida"- Ich bin die Kette des Lebens. Moderiert wurden die eng aufeinander folgenden Shows von Maria Isabel, Alba Marias (schon 34jaehriger!) Tochter, welche es gekonnt verstand, die Stimmung zu beleben und immer wieder Themen ueber unsere Beziehungen zur Natur in die Runde zu werfen. So bat dieses tolle Wochenende mit insgesamt mehr als 500 Besuchern in Terra Mirim weit mehr als nur einen Unterhaltungseffekt: bewusst zu leben, den Alltag zu hinterfragen, die Kette / das Netz des Lebens zu respektieren und zu verinnerlichen, dass wir in ewiger Symbiose mit unserer Erde leben - dazu wurden Denkanstoesse gegeben. Bewusst zu leben, das erscheint mir passend als Phrase zum Leben hier allgemein. Inmitten dieses wunderbaren Gartens Terra Mirim, voller Fruechte, Blaetter, Heilpflanzen, mit Wasser aus einer nahen Heilquelle versorgt, kann man sich wahrhaftig einmal die atemberaubende Vielfalt und Schoenheit dieser Welt vor Augen halten. Die Tiere leben im Einklang mit den Menschen, Affenbanden ziehen wissbegierig in den Baeumen ueber unserer Koepfe hinweg und geheimnisvolle Tropenwespen "Maribunda" (ich wurde schon zweimal gestochen - u.A. in die Nase) bauen faszinierende Nester. Alleine schon die soziale Organisation einer Bienenkolonie mit all ihren Arbeitern, Muelldeponien, Wachposten, Nahrungsdepots (Honig) und natuerlich der Koenigin ist ein unglaublich meisterhaftes Werk der Schoepfung. Kein Mensch koennte so etwas Perfektes erfinden. Er kann es nur zerstoeren.

Und er tut es. Ich tue es. Wir alle tuen es. Es beginnt bei der Kleidung die wir tragen und dem Fisch, den wir essen, geht ueber die Haltung von Nutztieren, deren Produkte wir verzehren und bis zum Strom, den wir verbrauchen (auch dieser Bloggeintrag heizt das Klima). Dabei vergessen wir fortwaehrend eine wichtige Tatsache, und dieses Vergessen ist wohl ein neurobiologischer Verdraengungsvorgang, der sich nur beim Homo sapiens abspielt: wir sind Saeugetiere! Wir brauchen Luft, Wasser und Nahrung, wie jedes andere Geschoepf auf dieser Erde auch. Und hiermit sind wir wieder beim Thema "bewusst leben". Die schamanistische Philosophie beschaeftigt sich viel mit den vier Elementen - Luft, Wasser, Erde (Nahrung), Feuer (Zellatmung) - , welche schlicht die Grundlage allen Lebens sind. Aber fataler Weise bildet man sich ein, darauf nicht angewiesen zu sein. Bis einmal etwas fehlt. Dann wird es einem wieder bewusst.Bewusst leben, das heisst sich vor Augen zu halten, dass meine Plastiktuete im pazifischen Muellstrudel landet und meine Kinder Fische mit Kunststoffgranulatstueckchen in deren Verdauungstrakten essen. Dass meine Autoabgase die Malediven ertraenken und Voelkerwanderungen in Gang gesetzt werden, die bis vor die eigene Haustuer gehen werden - Lampedusa und Co. sind erst der Anfang. Dass mein Stueck Rindfleisch den Regenwald in Brasilien wegen Sojaanbau (Rinderfutter) vernichtet und der Lungenkrebs dieser Erde alle anderen Organe in Mitleidenschaft ziehen wird, letztlich auch mich. Dieses Bewusstsein dauerhaft anzuschalten, das kann man hier lernen und es ist vielleicht ein Ideal, nachdem ich in Terra Mirim suche.
Heute wurde vor meinen Augen, keine 10 Meter weg, ein grosser Hund auf der Landstrasse vor unserer Bushaltestelle von einem Jeep mit Tempo 70 ueberfahren. Dieses Leid, dieser Schmerz, den dieses stolze Tier auf dem Gesicht geschrieben hatte. Mit leblosen Hinterbeinen und gebrochenem Becken sich zum Strassenrand schleppend, um dort einfach zu sterben. Es hat sich mir ins Gedaechtnis gebrannt. Genauso wie der Fahrer, der sich einen Dreck darum schert und weiterfuhr. Bewusst oder unbewusst leben?, das ist die Frage.

Um aber wieder auf den Boden der Tatsachen zurueck zu kommen: die “ganz normale” Arbeit gibt es natuerlich auch:
Einmal pro Woche darf man morgens um 7 Uhr den Gaertner in sich rauslassen. Denn dann versammeln sich alle Mitarbeiter der Fundação, um innerhalb von zwei Stunden ein Stueck des grossen Gelaendes zu entwildern. Dann wird die Machete geschwungen, Gras zusammengerecht, die Heckenschere ausgepackt und sich richtig schoen einzusauen. Bei Regen wird die ganze Sache noch schmackhafter. Schlamm fliegt durch die Gegend und die Waschmaschine freut sich auf neues Futter. Es ist eine schoene Sache, wenn man sieht, wie sich ein verhaeltnismaessig grosses Gartenstueck innerhalb von so kurzer Zeit wieder zugaenglich macht. Gleichzeitig fuehlt man sich erstaunlich gut, sich direkt nach dem Aufstehen zu verausgaben und danach mit dem Gefuehl fruehstuecken zugehen “jetzt haben wir schon was geschafft”!
Geschafft haben wir in den letzten vier Wochen noch mehr. Die Bibliothek ist bereits im post-perfekten Zustand angekommen. Nachdem wir sie gestrichen und jedes der circa 1000 Buecher einzeln kontrolliert und katalogisiert -, sowie neue Orientierungsschildchen angebracht hatten, konnte man diesen kleinen Raum mit ein wenig Eigenlob betrachten. Diese Woche waren nun die Kinder aus der Oekologischen Schule in der Bibliothek zu Gast, um eine kleine Lesestunde zu veranstalten. Hinterlassen haben sie uns dabei ein ziemliches Chaos. Man kann sich getrost fragen, warum Kinder, die noch nicht einmal richtig lesen koennen, so in der Spalte “Parapsychologie” gewuetet haben. Es ging wohl mehr darum, den Einband der Buecher zu begutachten, als darin zu lesen. Dilan und ich sind ausserdem dabei, ein wenig mehr in den Alltag und das Leben von Terra Mirim einzutauchen. So liessen wir es uns nicht nehmen, einen eintaegigen “Kurs” im Zubereiten frischer Saefte (Rezepte gerne auf Anfrage) hier zu besuchen. Verbunden wurde dies mit einer sehr ausgiebigen Gespraechsrunde unter der Leitung von Alba Maria, die sich vor allem dem Thema Gefuehl und Ernaehrung widmete. Man sass dann im Kreis beisammen im schamanischen Tempel. Aufgrund der komplizierten Erlaeuterungen von vielerlei psychologischen Geschichten ueber Essgewohnheiten, vielleicht aber auch wegen der gemuetlichen Atmosphaere, bin ich dann kurzerhand auf meinem Sitzkissen eingeschlafen. Dennoch habe ich einiges an interessanten Dingen ueber Fruechte und Gemuese gelernt, z.B. dass bei einer Wassermelone vor allem der weisse innere Rand sehr gesund ist und den Alterungsprozess verlangsamt! Angespornt von manchen Leuten, die hier leben, ueberlegen wir Deutschen und jetzt ernsthaft, hier einmal eine reine “frisch-gepresste Saftwoche” einzulegen, Denn bei richtiger Planung kann man so alle Naehrstoffe im richtigen Mass zu sich nehmen, die der Koerper benoetigt. Nur das schoene Gefuehl beim Kauen fehlt dann eben. Das faellt uebrigens auch unter die Kategorie “bewusst leben”.

Was uns das Leben hier ebenfalls immer schoener macht, ist der stetig besser werdende Kontakt zu den Jugendlichen aus dem Nachbardorf Palmares. Wir fuehlen uns jedesmal pudelwohl, wenn wir die 5-10 Busminuten vom Terra Mirim-Gelaende entlang der BA-093 fahren und dann aussteigen ins “richtigen Brasilien”. Das Lustige an der Sache ist: wir verabreden uns eigentlich nie richtig mit den Leuten. Stattdessen kommen wir einfach nur an und treffen aber immer direkt jemanden, mit dem wir singen, erzaehlen oder einfach nur Spass haben.Diese Leute sind wirklich zutiefst beeindruckende Menschen, stehen u.A. auch der afrikanischen Candomblé-Religion oder der Kommunistischen Partei Brasiliens nahe und oeffnen einem auf ganz erstaunliche Art die Augen fuer die Welt. Kennengelernt haben wir die meisten von ihnen bei einer Jugendlichen-Freizeit in Monte Gordo, einem ganz kleinen Doerfchen in der Naehe vom wohl schoensten Strand, den ich je gesehen habe. Unter dem Motto: “Schlafen ist verboten” haben wir ein ganzes Wochenende Selbstversorger gespielt, den Strand genossen (trotz Nieselregens) und morgens frueh um 6 Uhr Sambarunden gestartet. Da uns nicht angekuendigt wurde, was auf uns zukommt – naemlich quasi kein Platz zum Hinlegen – durften die wenigen und kurzen Schlafphasen mit der duennen Brasilienfahne als Decke und meinem Pullover als Kissen genossen werden. Unzaehligen Muecken erfuellte ich in jenen Naechten ihren Traum vom lebenslangen Nahrungsvorrat, es sollten bis zum letzten Tag etwa 150 Stiche an meinen Armen und Beinen gezaehlt werden. Aber das tat der guten Laune keinen Abbruch. Genauso wenig, wie die Tatsache, dass ich im Schlaf von caipirinhisierten Menschen des Oefteren mit Farbe bemalt wurde! Am naechsten Wochenende wird es in Palmares eine grosse Halloweenparty geben. Die oeffentliche Schule wird hierfuer ihren (kleinen) Schulhof zur Verfuegung stellen und ein DJ ist auch so gut wie organisiert. DJ, das bezeichnet hier den Menschen, der die CDs brennt. Der aktuelle Sommerhit ist uebrigens DIESER.

Pronto. Agora, vou continuar a trabalhar. Tenho que alimentar as abelhas. Um grande abraço para vocês e até mais!

Freitag, 16. Oktober 2009

Weltklimagipfel

Am 24. Oktober wird es einen weltweiten Aktionstag zum Thema Klimawandel geben. Anlass ist die im Dezember stattfindende Weltklimakonferenz in Kopenhagen, in deren Vorfeld auch wir in Terra Mirim die oeffentliche Debatte ueber dieses Thema mit gestalten moechten.

Dieser globale Aktionstag findet unter dem Motto "350" statt. 350, das ist der wissenschaftlich ermittelte Wert (in "Partikel pro Millionen") an C02-Konzentration in unserer Atmosphaere, den wir benoetigen wuerden, um das immer schneller voranschreitende Abschmelzen der Gletscher und Polkappen, sowie andere Folgen der globalen Erwaermung gerade noch abzuwenden. Dieser Wert lag vor dem Zeitalter der Industrialisierung noch bei 275 und heute - bei 387! WEITERE FAKTEN

Diese Bewegung - 350 - geht gerade einmal um den Globus und es sind fuer den Aktionstag am 24. Oktober schon mehr als 3000 Veranstaltungen auf der ganzen Welt geplant. Transparente auf den hoehsten Gipfeln des Himalaya, 350mal laeutende Kirchenglocken und Aktionen auf dem Great Barrier Riff werden dazugehoeren.
Auf 350.org kann jeder seiner eigenen Stimme zu diesem Thema Gewicht verleihen.

Soweit ein kleiner politischer Einschub von hier (Obamas Internetwahlhelfer habens vorgemacht), nach dem naechsten Wochenende voller Ereignisse wird dann mal wieder ein richtiger Bericht folgen!

Freitag, 2. Oktober 2009

Kapitel 1: Startphase abgeschlossen

Einen wunderschoenen guten Tag allerseits wuensche ich euch aus Terra Mirim! Mein erster richtiger Bericht von hier ist ein wenig laenger geraten, als gewollt und aufgrund der etwas anderen Computertastatur, benutze ich leider weder "ö", "ä", "ü", noch "ß". Vergebet mir hierfuer!
Ich hoffe, das Geschichtchen ist dennoch lesenswert, kann einen ersten Eindruck von dem vermitteln, was ich hier tue und vielleicht dann auch die Frage beantworten: wie lebt denn der Max da drueben eigentlich so?

Viele liebe Gruesse wuensche ich von der anderen Seite des Atlantîco und ich freue mich ueber jede Nachricht aus dem herbstlichen Deutschland (hier gibt es keine richtigen Jahreszeiten).

Euer Max

________________________________________________


Nun sind seit unserer Ankunft also schon gute vier Wochen vergangen und in diesen hat sich natuerlich einiges getan. Ich muss gestehen, dass es nicht moeglich ist, alles aufzuschreiben. Denn natuerlich erlebt man jeden Tag neue Dinge und gewinnt einen Haufen Eindruecke.

Da waere erstens der Sprachkurs, den ich in Salvador City in den ersten zwei Wochen gemacht habe. Diese Stadt ist riesig. In Deutschland hatte ich schon Blicke auf einen Stadtplan geworfen und eigentlich geglaubt, die Metropole liege direkt um die Ecke. Aber jeden Tag 3-4 Stunden Busfahrt, um den Sprachkurs machen zu muessen, haben mich eines Besseren belehrt.

Bis nach Salvador kommt man von hier aus eigentlich nur mit richtigen Reisebussen. Diese haben vorne aber nie eine Aufschrift "para Salvador". Ergo: man steht am Strassenrand und versucht verzweifelt, die mit Tempo 70 anrasenden Busse anhand ihrer Farbe zu erkennen - dumm, wenn z.B. ein anderes Auto noch vorne drann tuckert.

Dann muss man schnell den Arm rausstrecken und hoffen, dass die Busfahrer gerade nicht unaufmerksam sind. Wenns schlecht laeuft, kann man da schon einmal eine halbe Stunde verlieren! Dann sitzt man endlich eine Weile im klimatisierten Gefaehrt und schaut aus dem Fenster, faehrt ewig vorbei an den Armenvierteln der "Perifería". Und dann auf einmal: Riesige Hochhaueser, wahnsinniger und lauter Verkehr, ueberall Menschen und in der Mitte der "Stadtautobahn" eine Abwasserbruehe, die stinkt und langsam vor sich hin schwimmt. Hier angekommen, darf man netter Weise aussteigen und dann zum Stadtbus wechseln, der einen dann, mit gefuehltem Umweg, zum deutschen Goethe-Institut fuehrt.
Dieses Haus ist schon beeindruckend anzusehen: quasi eine kleine Villa, umgeben von 20-stoeckigen Hochhauesern. Und auch von innen hat man eher den Eindruck eines, als sei man in einem europaeischen Enklave. Denn es gibt dort eine super ausgestattete Bibliothek mit modernsten Internetanschluessen, top klimatisierte Klassenzimmer und sogar einer Hausbar. Der Unterricht war eher, auf brasilianisch gesagt, "chato" - langweilig. Gruppenkurs hatte ich eigentlich gebucht, die Gruppe sollte sich dann allerdings als Ich-AG zusammenfinden. Mit meiner Lehrerin durfte ich 2 Wochen lang 1,5 Stunden pro Tag alle grammatischen Regeln durchgehen, die es gibt. Ich habe mir in der Zeit oefters Teetje, meinen Lehrer in Deutschland (F+U Sprachschule), herbei gesehnt, der es verstand, Abwechslung und Stimmung in die Stunden zu bringen.
So wusste ich schon ab dem dritten Tag, was am darauffolgenden auf mich zukommen wuerde: ueber den gestrigen Tag sprechen, eine neue grammatische Regel aufschreiben, Beispiele lesen, 30 eigene Beispiele aus dem Kopf machen (wo mir immer die Kreativitaet den Dienst versagte) und Hausaufgaben besprechen. Gelernt habe ich dabei schon einiges, aber in Relation zum Stress mit der Fahrt jeden Tag, hat sich die Sache nicht gelohnt.

Insgesamt waren diese zwei Wochen sehr anstrengend, gleichzeitig aber von elenden Stunden des Sitzens und Zeittotschlagens gepraegt. Man kann zwar versuchen, sich mit Lesen bei Laune zu halten, aber bei dem staendigen Gewackel und dem Achterbahnfahrstil von Salvadors "Motoristas", wird einem nur schlecht.
Abends durfte ich dann immer zusaetzlich fleissig Hausaufgaben machen und neue Vokabeln lernen, um die Sache abzurunden.
Schade an diesen ersten zwei Wochen war auch, dass ich des Oefteren leider nicht in den Genuss des leckeren Essens kommen konnte, das in Terra Mirim gekocht wird - rein vegetarisch, abwechslungsreich, gespickt mit bunten exotischen Koestlichkeiten, mit frischgepressten Saeften abgerundet und liebevoll zubereitet von Nalva, unserer bahianischen Kuechenfee. Das ist wirklich wahnsinnig toll und verdraengt manchmal sogar den Schwaben in mir, der sich nach leckeren Maultaschen und Laugenbrezeln sehnt.

Seit letzter Woche bin ich nun richtig in den Zeitplan der Fundação eingebunden. Ich arbeite jeden Tag zwei Schichten und samstags jeweils am Vormittag. Eine "Schicht" bezieht sich dabei meistens auf eine Taetigkeit von 9 - 12 Uhr, sowie von 13.30 - 17.00 Uhr. Fuer Abwechslung ist gut gesorgt. Den Werkzeugschuppen fegen und so ziemlich alles darin abschleifen und mit Anti-Rost-Mittel einpinseln, ein Beet vom Umkraut befreien, Rechnungen checken, die Lebensmittelliste der Vorratskammer am Vortag des Grossmarktbesuches erstellen, Archivakten ordnen, eine alte Bibliothek aufraeumen oder auch der Besuch des Grossmarktes selbst, sind Aufgaben, die Dilan und ich erledigen duerfen.
Zugegebenermassen, es fiel mir am Anfang schwer, sich mit diesen Aufgaben abzufinden, waren ich doch mit der Absicht den Dienst angetreten, sich direkt dem Umweltbereich zu widmen und mit moeglichst vielen (beduerftigen) Menschen zusammen zu arbeiten. Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit, gepaart mit der einengenden Sprache, plus das darauffolgende Heimweh, ergibt einen verschlossenen und traurigen Max. Es folgte eine triste, einwoechige Realitaetsflucht in meine Buecherwelt. Bis mir dann in einem klaerenden Gesprachaech mit einigen Verantwortlichen daraufhin die Philosophie von Terra Mirim naeher erlaeutert wurde, welche ich seitdem gluecklicher und aufatmend im Begriff bin, schaetzen zu lernen: Alles ist Eins.
Jede Arbeit beguenstigt eine andere. Eine saubere, geordnete Bibliothek etwa beguenstigt das Lesen der Jugendlichen vor Ort, dies ist also ein kleines Schrittchen auf dem Weg zur Bildungsinitiative. Rostfreie Werkzeuge sparen Kosten fuer alle Mitbewohner und fuehren dazu, dass jeder Gruenfleck schoen ist, die Toiletten funktionieren und das Dach stabil bleibt, was zugegebenermassen wiederum positiv auf die Stimmung der Leute einwirkt.
Das verzwickte an dieser Sache ist vielleicht die Tatsache, dass man als ungeduldiger 19jaehriger schnell sehen moechte, wie die verrichtete Arbeit Wirkung zeigt und, dass sie sofort etwas “zurueckgibt”. Aber, und das wird mir langsam bewusst: mit der Zeit kommt spuerbar etwas zurueck.
Gelernt habe ich im Nachhinein vor allem eine wichtige Sache: Dialog ist die Grundlage einer guten Zusammenarbeit. Immer.

Aber nun zu den aufheiternden Dingen des neuen Alltags!

Ich kuemmere mich um den Erhalt der 25 Bienenkolonien, welche etwa alle drei Tage mit Zucker versorgt werden, um praechtig zu "gedeihen". Dafuer braucht es mehr Geschick, als man auf den ersten Blick meinen mag. Denn waehrend man die alten Sirupflaeschchen, die normalerweise an einem Eingang zum Bienenstaat haengen, saeubert, machen sich die fleissigen Tiere daran, eben genau diesen Nahrungszugang zu verschliessen. Warum das? Bienen moegen im Nest kein Licht.
Und das kommt ja durch den kurzzeitig freien Eingang hinein. Also muss man mit grosser Vorsicht und einem scharfen Messer den Eingang freischneiden, darf dabei aber natuerlich keine dahinter liegende Biene erwischen. Falls dies doch passiert - praktische Erfahrung lehrte mich dies bereits - und man ausversehen die Population zur “Population-Minus-Eins” macht, kann man froh sein, dass die Evolution dieser Unterart den Stachel geraubt hat. Denn dann erklaert einem das Bienenvolk den Krieg, sie schwaermen massenhaft aus ihrer Behausung aus und versuchen, den Moerder zu vertreiben. Das macht es dann nicht einfacher, ihnen den Gefallen guter Versorgung zu tun. Was tut man aber nicht alles fuer den Wald, die Lunge unseres Lebens :-)
Mit Abstand am Erfreulichsten aber, sind die Tagesabschnitte, die ich in der "Oekologischen Schule" verbringen darf. Morgens und nachmittags wird unter der Woche eine Schulbusladung froehlicher Kinder abgeliefert. Von 7 - 14 Jahren sind alle Altersklassen vertreten, die auf zwei Klassenstufen aufgeteilt werden. Dort werden dann Gedichte gelesen und abgeschrieben, Gruppenraetsel geloest und vor allem kuenstlerische Aktivitaeten betrieben. Das grosse Thema, mit welchem man sich dabei auseinandersetzt, ist die Natur. Eine Beispielunterrichtsstunde: Es wird ein Gedicht ueber die Farben der Schmetterlinge laut vorgelesen, abgeschrieben, ein Schmetterling gebastelt, und wenn die Zeit dann noch reicht, ein Spaziergang zum See unternommen, wo es allerhand Schmetterlingsarten zu bestaunen gibt. Erfreulich ist es, zu sehen, dass selbst die Juengsten schon die Druckschrift einigermassen beherrschen! Ich setze mich dann einfach unauffaellig (keine leichte Aufgabe) zu den Kids in den Unterricht und versuche hier und da ein paar Tipps zu geben, wie "schreib das lieber weiter auseinander, dann sieht man, dass es zwei Woerter sind" oder "da fehlt noch ein Buchstabe". Letztens habe ich mal versucht, eigenhaendig eine Mathe-Spassstunde vor acht Maedels auf die Beine zu stellen. Den Tafelaufschrieb und das Beispiel kurzerhand ausgespart - keine Kreide weit und breit, Tafel unter Plakaten begraben - musste ich mit meinen Portugiesischfetzen, mehr oder weniger hilflos, improvisieren. Kinder-Sudokus habe ich ihnen versucht, naeher zu bringen. Bei manchen sogar mit etwas Erfolg. Wenngleich auch kein einziges Sudoku perfekt zurueck auf den Schreibtisch von Lehrer Max kam und so mancher Blick ziemlich gelangweilt wirkte, so wurde doch voellig ueberraschend die Frage "hat es euch denn Spass gemacht" einstimmig mit "Ja" beantwortet. Du steckst halt doch nicht drinn.
Voller Vorfreude hatte ich auch einen detaillierten Trainingsplan fuer meinen ersten Volleyballunterricht entworfen, um dann festzustellen, dass mir fuenf 8jaehrige Maedchen gegenueberstehen, die eigentlich lieber Fangen oder "Quem tem medo do homem branco? - Wer hat Angst vorm weissen Mann" spielen wollen. Und schon nach fuenf Minuten hatte die Allgemeinheit vergessen, dass eigentlich eine Ballsportart auf der Agenda stand. Ende der Stunde fand ich mich uebrigens, umgeben von kichernden Maedchen, in einem Feld aus Strassenkreide wieder und musste singend Haende abklatschen...aber so ist eben die Kinderseele: nicht durchgeplant bis ins letzte Detail, sondern frei, leicht und unbeschwert. Davon koennte man sich leider in der (grauen) Erwachsenenwelt manchmal eine Scheibe von abschneiden.
In ihren Pausen gehen vor allem die Jungs immer auf den Fussballplatz vor der Schule, wo ich mich als aktive Aufsichtsperson gerne einfuege. Es ist tatsaechlich wahr: die kleinen, Barfuss spielenden brasilianischen Jungs, haben es im Blut. Eine super Technik und so manch ein Ronaldinho-Move mit der Hacke machen einen hin -und wieder stutzig. Man kennt hier prinzipiell keine deutschen Fussballer, nicht einmal Oliver Kahn oder Ballack sagen ihnen was. Spaetestens, wenn ich naechstes Jahr als einziger jubelnder Deutscher durch die weinenden Menschenmassen in den Strassen Salvadors ziehe, wird man sich an mein Mario Gomez - Trikot erinnern.

Was machen wir eigentlich sonst so?

Inspiriert von den hiesigen Capoeira-Cracks, die sich akrobatisch und saltoschlagend an jedem Ort befinden wo Touristen lang laufen, uebe ich mich zunaechst wagemutig am Handstand (Rekord: 10 Sekunden!!!) und Dilan sogar am Kopfstand. Langfristig ist der Flick-Flack mit abschliessendem Rueckwaertssalto natuerlich das Ziel!

An den letzten drei Wochenenden haben wir jeweils kleinere Reisen in der Umgebung unternommen. So waren wir zum Beispiel am "Praia do forte", einem super schoenen Strand mit Meeresschildkroetenaufzucht, die man auch besuchen kann. Es war nicht sonderlich schwer, mich, als passionierten Fan der Meeresfauna, zu begeistern. Neben den fuenf verschiedenen Wasserschildkroetenarten Brasiliens, die in speziellen Zuchtbecken aufwachsen, um vor Feinden geschuetzt zu werden, gab es auch ein Becken mit riesigen Haien, oder ein Bassin mit Riesenrochen von 2 Meter Spannweite. Von oben betrachtet, ergibt sich da dem Betrachter ein wahrhaft aesthetischer Anblick. Achja, der Strand selbst war natuerlich traumhaft!

Eine Bootsfahrt durch die "Baia dos Todos os Santos" um die Ecke, liessen wir uns vor einer Woche nicht nehmen, wobei auf zwei der 57 Inseln halt gemacht wurde, um wieder zwei Bilderbuchstraende zu erblicken.
Mit feiernden Brasilianern, die im Wasser (morgens um 9.00 Uhr) Caipirinhas trinken, trommeln und einer Saengerin auf einem Schiff in der Buch zujubeln, hat uns einmal so richtig das Brasilien-Feeling gepackt. Und frohen Mutes, wenn auch wieder leicht verbrannt, konnten uns auch die 1,5 den Rueckfahrt nicht die Laune vermiesen.

Samstag vor zwei Wochen haben wir uns zum "Dia da musicá" nach Palmares, dem kleinen Nachbardorf, auf den Schulhof begeben. Die Show startete nur 2,5 Stunden, nachdem sie eigentlich angesetzt war - die typisch brasilianische Gelassenheit hatte zugeschlagen und wir Deutschen standen schoen dumm und viel zu frueh da. Wie war das nochmal mit der uebertrieben Strukturiertheit? Allerdings war es dann ein echt unterhaltsamer Abend. Zuerst wurden uns wunderbare Taenze in allen Variationen von den Jugendlichen der Umgebung dargeboten. HipHop - Taenze durften nicht fehlen, aber auch afrikanische Taenze von Camila, die selbst Tanzstunden in der Fundação leitet, brachte den Schulhof "zum Kochen". Anschliessend liess es eine lokale HipHop-Gruppe, "Os 5 loucos", sich nicht nehmen, bekannte Klassiker der brasilianischen Szene zu "performen" und die Stimmung war super. Im Alter von 6 - 25 rappten alle fleissig mit und hin und wieder lief auch mir eine bekannte Phrase ueber die Lippen. Als das Konzert dann spaet abends zu Ende ging, haben wir uns mit dieser Rapband noch ein wenig unterhalten, wobei klar wurde: der deutsche Rap hat es leider noch nicht bis hierher geschafft. Lustigerweise sind diese "5 Verrueckten" in Wirklichkeit nur halb so hart, wie die Texte es vermuten lassen und so haben wir uns ein wenig mit ihnen angefreundet. Sie werden wohl bei einem Fest im Oktober in Terra Mirim auch eine kleine Einlage zum Besten geben.