Dienstag, 18. Mai 2010

Olhe - que linda, essa Bahia!

Da nahte nun wieder ein Höhepunkt des aussergewöhnlichen Jahres. Nachdem ich meine Mutter bereits zur Neujahrswende empfangen durfte, war nun der männliche Elternteil im Anmarsch - und das nicht allein! Auch die (nicht böse) Stiefmutter war mit von der Partie.

Schon ein merkwürdiges Gefühl bestach mich an diesem Mittwoch, an dem die zwei ankommen sollten. Es war eigentlich ein ganz normaler Arbeitstag wie jeder andere auch und irgendwie aber doch nicht. Schon die ganze vorherige Woche ging es mir ähnlich. Man weiss, dass da der Vater ans andere Ende der Welt geflogen kommt, um einen zu besuchen. Und obwohl das natürlich eine Situation ist, die so eher selten vorkommt, war da irgendwie eine Art von Vertrautheit in mir. Dass er in meiner Nähe sein sollte, ist ja eigentlich das Normale und nicht das Unnormale. Unnormal ist ja eher meine Situation hier. Andererseits ist dieses Land für mich in den letzten Monat gewissermassen so etwas wie eine Heimat geworden und daran gewöhnt man sich schliesslich von Tag zu Tag mehr - was ist eigentlich "normal" und was nicht? Gibt es überhaupt eine Norm auf dieser Erde? Ein diffuses Bauch-Gedanken-Spiel.

Wie dem auch sei. Da waren sie dann also auf einmal da. Lustig war es für mich, der sich mittlerweile an dunkle Hauttöne und bunte Kleidung gewöhnt hatte (manchmal vergesse ich sogar meinen "auffálligen" Anstrich), den Vater im typisch-deutschen, komplett weissen T-Shirt zu begrüssen, hervorgehoben nur durch die fast noch hellere Hautfarbe darunter. Man waren die weiss - lange nicht mehr so etwas gesehen! So würden sie jedenfalls nicht von hier fortgehen, völlig ausgeschlossen.

Geschichten vom Jahr und Neuigkeiten gabs natürlich viel zu viele. So wurden mir erst einmal meine zwei heiss ersehnten Gastgeschenke überreicht - eine Laugenbretzel und der Kicker! Jeder Biss war ein Genuss, jede Statistik, jedes Fussballerinterview und neue Wechselgerücht Balsam für die Seele. Natürlich verschob ich die Lektüre und das kulinarische Highlight auf später, denn zweifellos hatte man sich Vieles zu erzählen. Wie machen sich die Geschwister, die Grosseltern, die zwei neuen, pelzigen Mitbewohner in Braunschweig, wie macht sich Bahia, jede Menge Stoff für die Fahrt zur Pousada. Die erste Begegnung mit den brasilianischen Verhältnissen machten die beiden indes direkt am Terminal. Das bestellte Taxi kam und kam nicht und als wir uns dann endlich dazu entschlossen, im Hostel anzurufen, bekamen wir folgende skurile Antwort: Der Taxifahrer sei in einen Unfall verwickelt worden und könne nicht kommen, weil er nun "preso" sei. Preso: engl. "prisoned": zu Deutsch "eingesperrt, im Gefängnis". Kein Problem, wir nahmen ein anderes Taxi, verkehrstechnisch war dies jedoch der Anfang unserer grossen Odysee.

Es muss beeindruckend sein, wenn das erste, was man von Salvador erblickt, die nächtlich erleuchteten Hochhäuser sind, eine schier endlose und riesengrosse Stadt. So geschehen bei den beiden. Wiederum merkwürdig für mich, eine weitere meiner zahlreichen ermüdenden Fahrten durch diesen Moloch zu unternehmen, den ich aufgrund von nicht abebbendem Verkehr, Lärm und Gestank stellenweise ziemlich hassen gelernt hatte. An diesem Abend war das aber von geringer Bedeutung und es gab viel zu zeigen. Sachen, deren Anblick für mich schon alltäglich geworden war, bieteten jeden Menge neue Anblicke für meine zwei "Gäste". Wer noch nie die riesigen Bambusreihen und Kirchenhallen gesehen -oder einmal den brasilianischen Verkehr aus der Innenperspektive erlebt hat, der staunt bestimmt nicht schlecht und für den nötigen Adrenalinkick ist ganz nebenbei auch gesorgt.

Wir bezogen dann ein schönes Zimmerchen in der Nähe des Leuchtturms von Barra an der Südspitze der Stadt und am nächsten Morgen musste ich die beiden auch schon sehr früh in Richtung Terra Mirim verlassen, wo wir uns zwei Tage darauf wiedersehen sollten. Leider sind die Ferientage bei einem Freiwilligendienst wie meinem auf 18 begrenzt und da galt es, sparsam mit umzugehen, Wochenenden und Feiertage taktisch gewieft einzubauen. Zwei Tage später trafen Papinho und Sanne dann nach einer prägenden Irrfahrt in Terra Mirim ein. Vor lauter hilfsbereiten Brasilianern - einer zeigt nach links, der andere nach rechts und ein Dritter will einfach nur Smalltalk - waren die zwei ein bisschen überfordert gewesen. Hinzu hatte ich sie durch eine Gegend gelotst, die man nicht unbedingt im Reiseführer erläutert findet und die auf den ersten Blick für zwei frische Gringos in Brasilien etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen mag...

Aber dann waren sie ja da und wir machten eine schöne Tour durch Terra Mirim. Weil die beiden in Braunschweig eine grössere Gärtnerei leiten, kann man sich vorstellen, dass sie von der unglaublichen Vielzahl an Fruchtbäumen, Helikonien, Bambuswänden und anderen tropischen Gewächsen ziemlich begeistert waren. Und als dann kurz darauf ein sehr heftiges Unwetter einsetzte, hat sie wohl endgültig das Regenwaldfeeling gepackt.

Am nächsten Tag machten wir uns schon in der Frühe auf, um einmal halb Bahia zu durchqueren. Die Chapada Diamantina war unser erklärtes Ziel, für das sich lockere neun Stunden Busfahrt lohnen mussten. Und das taten sie mit Sicherheit. "Ein Land, in dem Milch und Honig fliessen.", so hat es einst der brennende Busch Moses beschrieben, als er vom geheiligten Land sprach, wohin es das versklavte Volk zu führen galt. Zugegebenermassen, wir kamen unter besseren Umständen dort an, waren nicht unser Leben lang versklavt gewesen, mussten keine Wüste zu Fuss durchqueren oder das Meer teilen - wir wollten einfach nur in' URLAUB! Und wer will schon Milch und Honig, wenn es Flüsse aus dunklem Kölsch (mit Schaumkrone) zu bieten gibt. Es waren drei vier wunderbare Tage. An so vielen Wasserfällen kamen wir vorbei, sprangen hinein, gingen einfach weiter. Vorbei an seltensten Heilpflanzen, Kaktusarten und ähnlichem Gewächs, vorbei an hundert Jahre alten Steinhütten der Diamantgräber, welche damals ihr Glück in dieser Region versuchten. In den bernsteinfarbenen Flüssen mit gesunder Wirkung für Haut und Haar tauchten wir gelegentlich unter, nahmen eine Hand voll Kiesel in die Hand und siebten diese anschliessend mit der Hoffnung auf einen millionenschweren Fund im Wasser. Wir liefen durch Canyons und ausgetrocknete Schluchten, versteckten uns bei Regen in Höhlen, lauschten den Geschichten unseres Führers, der von Hummerwölfen erzählte und, wie er meterlange Boa-Constrictors von den Strassen rettet oder als Kind von einem ausgewachsenen Jaguar verfolgt wurde. Jeden Abend genossen wir Pizza und Caipirinhas, die uns ausgesprochen hübsch serviert wurden, weshalb wir absolut keinen Anlass dazu sahen, das Restaurant zu wechseln. Und dann gabs abends sogar eine Dusche unter einem kleinen Felsvorsprung im Freien - mit Blick auf die sich vor uns ausdehnende verzauberte Landschaft.

Dass die Chapada Diamantina freilich auch traurige Seiten zu bieten hat, konnte uns unser Führer gelegentlich aufzeigen, in dem er uns durch einige verwüstete, abgebrannte Abschnitte leitete. Als jahrelanger Chef der freiwilligen Feuerwehr vor Ort kam er viel auf die Problematik des Nationalparks zu sprechen, der von vielen Einwohnern nicht gerade begrüsst wurde - unmenschliche Enteignungen mit waghalsigen Umsiedlungsaktionen, Brandstiftungen, Analphabetismus im Angesicht komplizierter Bürokratie, Probleme mit Umweltschutz -und Regierungsorganisationen und dergleichen machen es der Gegend schwer, in eine gemeinsame und gesunde Zukunft zu streben. Einen attraktiven Ausweg sehen viele Ansässige im sog. Öko -und Abenteuertourismus. Also darin, dass Leute von Ausserhalb angeworben werden, die die unzähligen Wander-, Kletter- und Bademöglichkeiten wahrnehmen und Geld in die Kasse spühlen - den Geld hat leider, wie so oft auf dieser Welt, auch an dieser Stelle das Sagen.

Wer also den Menschen vor Ort etwas Gutes tun möchte, als auch sich selbst in Form eines wunderschönen Urlaubs zu belohnen aufgelegt ist, der mache schleunigst einen Abstecher in die Chapada Diamantina. Am besten nach Mucugê, das Dorf in den wir waren und das zurecht noch als absoluter Geheimtipp gilt! Leider findet es sich in kaum einem Touristenführer richtig wieder, das hat politische Hintergründe. Und was das in Brasilien bedeutet, kann man sich leicht ausmalen - der Gouverneur von Bahia empfiehlt jedenfalls Fall Lencois, den Ort, an dem seine eigenen Hotels stehen und den er mit Staatsgeldern über einen neuen Highway erschlossen hat. Und somit darf Lencois auch in keinem Bahia-Prospekt fehlen, während Mucugê nur den Eingeweihten (wie den Bewohnern Terra Mirims) etwas sagt.

Auf Anfrage gebe ich auch gerne genauere Daten zur Anfahrt und über unsere fabelhaften Unterkunft mit top brasilianischem Frühstück - orginial Holzherd (!) - durch.

Doch dann mussten wir die in so kurzer Zeit lieb gewonnene Chapada Diamantina auch schon wieder hinter uns lassen. Morgens früh um 5 Uhr ging es mit dem ersten Bus in Richtung Salvador zurück. Es sollte eine der anstrengsten Fahrten in unser aller Leben werden. Nach ca. 7 Stunden aussteigen, 2 Stunden warten und weiteren 4 Stunden Fahrt dämmerte es bereits über dem Hafenstädtchen, von dem uns ein Boot zu unserem letzten Ziel - der Ilha Boipeba - bringen sollte. Doch hatten wir die letzte Minifähre knapp verpasst und liessen uns dann von einem Taxifahrer überreden, der uns zu einem nur 1,5 Autostunden entfernten Dorf fahren sollte. Von dort aus setzen einheimische Fischer auch noch zu später Stunde mit ihren eigenen Booten nach Boipeba. Unsere Knochen vom stundenlangen Sitzen bereits geschundenen Körper erlebten nun eine kleine Ganzkörpermassage der besonderen Art. Der Taxifahrer, Sanne, mein Vater, ich und noch zwei waghalsige Finnen, die sich auch dazu entschlossen, die einsame Insel aufzusuchen - zu sechst und mit einigen Koffern und grossen Rucksäcken gequetscht in einem Fiat-Pander, der seine besten Tage schon längst hinter sich hatte (mein Heidelberger Freund G.K. weiss nur zu gut, was das bedeutet). Abgesehen, dass der Unterboden des Autos wahrscheinlich von der geballten Last ein wenig durchhing und wir deshalb bei jedem noch so kleinen Hügelchen auf der Strasse aufsetzten, bestand ein nicht zu unterschätzender Teil des Weges aus einem erdigen Buckelpistenwaldweg. Einen solchen Tag vergisst man nicht in seinem Leben. Und er sollte immer noch nicht vorbei gehen. Als wir durchgeschüttelt und ermüdet im Hafen des kleinen Fischerdörfchens eintrafen, war bereits tiefe Nacht hereingebrochen. Ganz die bahianische Art, liessen sich unsere Fährmänner natürlich reichlich Zeit, duschten und assen wahrscheinlich noch zu Abend, ehe wir ablegen konnten. Und als sich dann auch noch herausstellte, dass der Motor unseres Bootes kaputt gegangen war, lagen unsere seit 18 Stunden maltretierten Nerven endgültig blank.

Irgendwie rauschten wir dann aber letztendlich doch noch durch die schwarze Finsternis. Über uns einer der klarsten Sternenhimmel, den man wohl je gesehen hat im Leben, die Milchstrasse unverkennbar. Mit der kühlen Meeresbrise im Gesicht und den dunklen Schatten an den Ufern zu unseren Seiten, die aus den Mangrovenwäldern der durchfrästen Küste herausragten, jagten wir dahin. Auf einmal überwiegte doch wieder die Vorfreude die einsame Insel. Und dann strandeten wir auch schon sanfst auf dem feinen Sand der Ilha Boipeba. Als der Motor schliesslich verstummte, hörte man nur noch das leise Rauschen der Wellen und einige heitere Kinderstimmchen aus dem Dunkeln herübertreiben...

Es folgte Erholung pur - von der Fahrt vom Vortag oder überhaupt, ich weiss es nicht. Sommer, Sonne, Sonnenschein. Heller Sand, Kokosnusswasser, Strandsquash, ein genüssliches Buch im Schatten der Palmen, zwischendurch mal ein wenig in den Wellen treiben. Mein Vater nahm Kontakt zu einer Sambaband aus Rio auf, die an einem Abend ein kleines Konzert in unserer Pousada gaben. So kam auch er zu einem Auftritt und für die richtige Ferienstimmung war gesorgt. Süsse Strassen- bzw. Strandhunde gab es auf Boipeba eher wenige zu sehen, ein „Pitschibully“ konnte seinem erhöhten Testosteronspiegel Ausdruck verleihen, in dem er mir mein Handtuch zum „Spielen“ entwendete. Bei so einer konzentrierten Kraftpackung und ebenso respekteinflössenden, haifischartigen Zahnreihen, zieht man es dann doch lieber vor, keinen Widerstand zu leisten. Der süsse kleine Pitschibully. Leider assen wir abends meistens in einem (sehr leckeren) vegetarischen Restaurant.

Eine Inselumrundung liessen wir uns auch nicht entgehen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Delfine gesehen! Allerdings nur die Rückenflossen, die sich kurz synkron an der Oberfläche erhoben und dann wieder abtauchten. Alleine zu wissen, dass diese Tiere in der Nähe sind, hat mich ziemlich fröhlich gestimmt. Flipper und Free Willy (ok, der war ein bisschen grösser), Delfine als Lebensretter, als Therapeuten, als Kommunikationswunder, als bisher einzige bekannte andere Art auf diesem Planeten, die nicht nur zum Kinderkriegen miteinander „spielt“. Wer weiss, vielleicht begegne ich dieses Jahr in Amazonien ja noch dem ein oder anderen rosa Flussdelfin. Was so ein kurzer Moment der Begegnung mit zwei Flossen alles in einem auslösen kann, ist schon erstaunlich.
Und dann kamen wir an einer Bar vorbei, sowas hat die Welt noch nicht gesehen: mitten im Meer. Eine einstöckige Holzkonstruktion , auf einer kleinen Sandbank aufgestellt und nur bei Ebbe (wir hatten Glück) erreichbar! Gut, eine kleine Offshoresteuer auf die Getränke und ein leicht merkwürdiger Anblick unserer Superspezialcocktails (hingen da nicht Tintenfischarme drinn?) war natürlich auch mit von der Partie. Aber was ist das schon gegen das verrückte Gefühl, inmitten von Wasser, das solangsam steigt und die Bar zu verschlucken droht, das Leben zu geniessen?

Auch eine brasilianische Fisch –und Meeresmuschelzucht erkundeten wir noch auf dem Rückweg. Da das bei keinem von uns Dreien wirklich Hunger verursachte, wollen wir darüber auch nicht all zu viele Wörter verlieren.

So plätscherten die Tage auf unserer einsamen bahianischen Insel seicht dahin. Es wurde früh ins Bett gegangen und spät aufgestanden, nur um sich kurz darauf wieder auf dem Sand niederzustrecken. Hektik, Stress und Arbeit wurden nach einem stillschweigendem Gentleman`s Agreement aus unseren Wortschätzen gestrichen. Genauso, wie es eben sein muss. Dann musste ich eines Sonntagmorgens schweren Herzens - wir sollten uns noch einmal in Salvador zum richtigen Abschied zu sehen bekommen - und zeitgleich voller positiver Energie aufbrechen. Die Arbeit rief. Kleine süsse Kinder und Übersetzungstexte.

Und so musste ich Vatti und Sanne als letzte Aussenposten auf unserer einsamen Insel zurücklassen, fuhr dieses Mal bei Tag mit einem Schnellboot durch das Labyrinth aus Mangrovenwäldern und gab meinen Bauch zur Sonnenbestrahlung frei. So lässt es sich leben!