Mittwoch, 9. Dezember 2009

Kapitel 3 - Teil 4: Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

Eine Stadtrundfahrt durch Simões Filho an einem Abend unter der Woche. Auf den Strassen ist nicht viel los, zumindest ein paar Hunde spazieren dem Auto ueber den Weg. Merkwuerdig eigentlich fuer eine Stadt mit fast 120.000 Einwohnern, also etwa der Groesse Heidelbergs. Denn mit Abend meine ich 19.00, vielleicht auch 20.00 Uhr. Irgendwie geisterhaft wirken die leeren Wege.

Doch halt! Da, an der Ecke kommt helles Licht aus einer grossen Haustuer. “Was es wohl damit auf sich hat?” frage ich meinen brasilianischen Sitznachbar und Fahrer. “Na, das ist eine Kirche - eine “Adventistenkirche” ! “Eine Adventistenkirche? Was ist das denn? Gibt`s die etwa nur im Dezember?” Er legt den Rueckwaertsgang ein und wir halten vor der Eingangstuer zu unserer Rechten.

Der mittelgrosse, blankgeputzte Raum - auf den ersten Blick sauberer als die meisten Haeuser hier - ist voll bis auf den letzten Sitzplatz, sogar an der Wand draengeln sich noch Leute. Und alle singen, wirklich alle. Ein hoerbar computerkomponiertes Kirchenlied wird mit kleinen Boxen in den Raum geworfen und gibt den Takt vor. Parallel dazu wird eine Powerpointpraesentation an die Wand geworfen: wunderschoene Naturaufnahmen aus Amazonien und der passende Liedtext am unteren Bildrand. Vor allem die vielen Kinder in den ersten Reihen geben ihr Bestes, dem Chor Leben einzuhauchen. “Jesus liebt dich, dein Kapitaen, er steuert dein Schiff, es wird nicht untergehen...”. Und bei bestimmten Passagen kann man fast schon von einer Choreografie sprechen, wobei alle ihre Haende in die Luft strecken und in Richtung Altar halten.

Wo hat man das schon einmal in Deutschland gesehen? Eine vollbesetzte Kirche an einem ganz normalen Wochentag. Vollbesetzt nicht mit einem Anteil von 80% ueber 50jaehrigen, sondern mindestens zur Haelfte mit Kindern! Und die haben einen Spass, unuebersehbar. Da wird viel gelacht und gestrahlt und brav dem Pastor geantwortet: “Wer ist Jesus Mutter?” - “MARIA!!!” Solche oder aehnliche Situationen sind mir in den letzten fuenf Monaten nicht selten begegnet. Und fast nie weiss ich, was ich nun eigentlich davon halten soll.
Da wird es mal Zeit fuer eine ordentliche Reflexion. Und die will ich mit den Lesern von meinem Blogg teilen, denn jeder der sich fuer Brasilien interessiert, kommt an diesem Thema nicht vorbei. Das folgende Unterkapitel war ein Versuch, einen moeglichst neutralen Gesamtueberblick zur Situation in meinem Umfeld geben, zu dem sich natuerlich jeder seine eigene Meinung bilden soll. Allerdings faellt mir nun im Nachhinein auf, dass der Text doch sehr durch meine eigenen Ideen und Meinungen geleitet wurde. Es ist offensichtlich schwierig, immer objektiv zu bleiben, wenn einem ein Thema auf dem Herzen liegt. Also eine Entschuldigung im Vorraus! Zunaechst einmal wieder die Fakten: etwa 70% aller Brasilianer bekennen sich zum katholischen Christentum und etwa 15% zum Protestantismus. Dabei muss aber gleich zu Beginn klar gesagt werden: Protestantismus in Brasilien hat stellenweise recht wenig zu tun mit der lutheranisch-evangelischen Kirche Mitteleuropas. Im Gegenteil: konservativ-bibeltreue Freikirchen, sog. “evangelikale” Bewegungen, sind weit verbreitet und laufen der katholischen Kirche – “Brasilien, das katholischste Land der Welt” – heute den Rang ab. Schaetzungen zu Folge gibt es mittlerweile etwa 35.000 Freikirchen in Brasilien, Tendenz weiter steigend. Da ich kein Kirchenexperte bin, will ich mich an dieser Stelle zum zweiten Mal im Vorraus entschuldigen. Was genau der Unterschied zwischen einer “normalen” Konfession und einer Freikirche ist, vermag ich nicht zu sagen. Genauso wenig koennte ich sagen, ob jetzt die “Adventisten”, “Dreieinigkeitskirchler”, “Universumschristen”, “Jesus-ist-der-Herr-Christen” oder die “Christenversammlung” Freikirchen oder sonstige Abspaltungen sind. Da kann im Folgenden also schon ein bisschen falsch durchmischt werden, was nicht durchmischt gehoert.

Um die Zahlen zu komplettieren: In Bahia noch sehr ausgepraegt ist eine polytheistische afrikanische Religion, die sich “Candomblé” nennt, dem auch manche Leute aus unserem Bekanntenkreis hier angehoeren. Insgesamt machen die Anhaenger dieser Religion immerhin 1,5% der Gesamtbevoelkerung Brasiliens aus. Menschen, die sich in diesem Land nicht zu einer Religion zugehoerig fuehlen, teilen dies nur mit einem sehr geringen Prozentsatz ihrer Landsleute, das ist wohl der groesste Unterschied zu uns in Deutschland. So nimmt der Glaube bei den meisten Menschen hier auch eine zentrale Bedeutung im Alltag ein. Seien es der regelmaessige Kirchenbesuch, ehrenamtliche Aktivitaeten im Rahmen der Gemeinde, das sich Beschaeftigen mit der Bibel oder einfach Gespraeche ueber Ansichten der verschiedenen Konfessionen bei einem Bier an der Strassenecke.

Alleine das 5000 Einwohnersdoerfchen Palmares hat sieben (kleinere) Kirchen und zwei Candomblé-“Tempel”. Und wie auch in Simões Filho, sind diese religioesen Orte sehr gut besucht. Oft kommen sogar grosse Busse vorbei, um Leute von ausserhalb zu Gottesdiensten oder Ritualen abzuliefern und bringen diese danach wieder nach Hause. In Heidelberg trifft man sich abends zum Ausgehen ins Kino, zum gemeinsamen Feiern, Essen oder Trinken in der Stadt – hier trifft man sich zum gemeinsamen Zuhoeren, Beten und Singen.

Aber ist es wirklich nur “beten und singen”? Klar, durch die vielen kirchensteuerzahlungswilligen Glaeubigen stehen den Gemeinden erstaunlich hohe Geldsummen zur Verfuegung. Auch die Aermeren sehen es als ihre klare Pflicht an, eine gute Tat ueber ihre Kirche zu finanzieren: ein Waisenhaus, einen Kindergarten, Essensspenden, usw. Wohl angemerkt aber sehr oft ein christliches Waisenhaus, ein christlicher Kindergarten oder ein Essen im Rahmen einer christlichen Veranstaltung. Und die Missionare aus den USA, die kostenlose Bibelauslegungsstunden fuer Indianer (in Mato Grosso erfahren) anbieten, kommen auch nicht alleine und ohne Finanzstuetzen zurecht. Gelder finden ihren Weg aber offensichtlich auch in die Kirchengebaeude selbst: in Palmares sind die verschiedenen Gotteshaeuser nicht nur die saubersten, sondern auch infrastrukturell - im Hinblick auf die Statik und elektrische Ausruestung - die besten Haeuser. Die “Dreieinigkeitskirchen” haben sogar alle ein Schlagzeug, Verstaerker, z.T. E-Pianos und andere teurere musikalische Geraetschaften im Angebot, auf denen tagsueber gelegentlich auch Unterrichtsstunden gegeben werden. Leisten kann sich solches Bandzubehoer eigentlich keiner der Einwohner.

In Punkto Finanzierung ist der Durchblick von Aussen nicht immer ganz einfach. Manche Leute haben mir beispielsweise erzaehlt, dass es Kirchen gibt, die sich ebenfalls als “evangelikal” bezeichnen, der Praxis nach aber die selben Eigenschaften des vorlutheranischen Katholizismus aufzeigen. Denn wenn man zu “Spenden” genoetigt wird, mit Bezug auf eine hoehere Wahrscheinlichkeit, nach dem Tod gen Himmel zu fahren, dann darf man von Ablasshandel reden. Inwiefern die Wirklichkeit an dieser Stelle mit den Erzaehlungen uebereinstimmt, mag ich nicht zu sagen, denn die Grenze zwischen “um eine Spende bitten” und “um eine Spende um der Seele im Jenseits wegen bitten” ist schliesslich fliessend.

Zweifellos haben die christlichen Verbaende jedoch durch ihre finanziellen Moeglichkeiten eine Machtstellung in Brasilien eingenommen, die in Deutschland keinen Vergleich findet. In den Medien - vor allem im Fernsehen - ist der Einfluss z.T. sehr gross, was die Berichterstattung in den Nachrichten angeht. Jeden Sonntag laufen auf X Kanaelen Gottesdienste im Fernsehen. Mit offensichtlich guten Einschaltquoten. Ein interessantes Beispiel, dass meine Mutter und ich waehrund unseres gemeinsamen Neujahrsurlaubs (Bericht folgt uebrigens noch) per Fernseher mitverfolgen durften, zeigt die Macht der Kirche vielleicht besonders gut auf: in Salvador wurde ein Kleinkind in ein Krankenhaus eingeliefert. Auf einer Roentgenaufnahme wurde festgestellt, dass der Koerper des Kindes ueber und ueber mit etwa vier Zentimeter langen Nadeln unter der Haut bestueckt war. Merkwuerdigerweise gab es aber keinerlei Einstiche auf der Haut. Auf jedem Zeitungscover, im Fernsehen, in den Internetnewstickern – tagelang: eine mysterioese Geschichte mit noch mysterioeseren Bildern schien in der Oeffentlichkeit gut anzukommen. Dann wurde spekuliert: Voodoo-Rituale, schwarze Magie und solche Dinge waren in aller Munde. Denn auch die aermsten brasilianischen Haushalte haben mittlerweile einen Fernseher. Nun wandelte sich dieses Raetselraten alsbald in eine Hetzkampanie um. In vielen Kirchen wurde das Thema dankbar aufgegriffen: “Die afrikanischen Religioesen sind barbarisch, menschenverachtend, eine Schande fuer uns.” Dabei machte man sich natuerlich nicht die Muehe, zwischen den vielfaeltigen afrobrasilianischen Religionen zu unterscheiden. “Alles in eine Schublade” war das Motto.
2000 Kilometer entfernt vom Geschehen, in Mato Grosso, also einer laendlichen Region im Landesinneren, interessiert viele Leute leider nicht, dass es riesige Unterschiede zwischen den traditionellen Religionen Westafrikas gibt. Dort und in vielen anderen Landesteilen Brasiliens werden nun einfach alle spirituellen Braeuche der schwarzen Bevoelkerung gemeinsam verteufelt. Und die Kirche, die sich diese Geschichte ueber ihre z.T. selbst mitfinanzierten TV-Programme schoen zurechtgeschneidert hat, predigt dann in den eigenen Gotteshaeusern gegen die “schwarze Gefahr”. Fuer mich persoenlich ist das schlichtweg eine sehr moderne Form von Rassismus. Ja, letztendlich hatte der Stiefvater des Kindes offensichtlich eine Verbindung zu einer Gruppe, die mit “dunkler Magie” experimentiert hat. Ein schlimmer Fall zweifelsohne und das Kind tut auch mir Leid. Aber darf ich vorsichtig einen Freund, der Teil der Candomblé-Religion ist, zitieren: ”Der Stiefvater hatte Verbindungen zu afrikanischer Religion, deshalb aber in keinster Weise zum Candomblé. Verbindungen hat die christliche Kirche uebrigens auch – zu Holocaustleugnern, zu Voelkermorden an den indigenen Bewohnern Sued –und Mittelamerikas und einem damit einhergehenden jahrhundertelangem Goldraub, zu den Kreuzzuegen, zur Nichtrehabilitierung Galileo Galileis bis 1992.” Das ist natürlich eine sehr überspitzte Rhetorik und polarisiert nicht weniger, als es die Fernsehkirche tun. Trotzdem: wir sollten es uns meiner Meinung nach nicht anmaßen, den moralischen Zeigefinger zu erheben und auf andere herabsehen.

Wo wir gerade beim Thema “Herabsehen” sind, hier eine kleine Anekdote dazu. Es sitzen etwa 30 Menschen in einem halbvollbesetzten Linienbus von Simões Filho, unter ihnen der Autor Max S.. Die meiste Zeit ist es eher ruhig, abgesehen vom Scheppern der Buskarosserie. In meine spannende Lektuere vertieft, merke ich zunaechst gar nicht, dass sich mein Vordermann langsam erhebt, umdreht und dann ein Buch mit einer Hand (wie zur Drohung) in die Hoehe haelt – die Bibel. Er beginnt nun zunaechst leise und eindringlich auf den versammelten Bus einzureden. Verwundert bin ich ja schon. Was er genau redet, kann ich nicht verstehen. Vor allem wenn er dann sein erhobenes Buch oeffnet, den Zeigefinger der anderen Hand wildgestikulierend darauf richtet und anfaengt, zu zitieren. Merkwuerdig allerdings, dass er laut liest und dabei ununterbrochen hin –und her blaettert. Die ganze Show muss er wohl – mehr oder weniger schauspielerisch ueberzeugend – auswendig gelernt haben. Mitten im normalen Satz schreit er dann auf einmal auf: “DEUS! DEUS! DEUS!” Ich spuere, wie meine Sitznachbarin zusammenzuckt unter dem ploetzlichen Tonwechsel und auch selbst fuehle ich mich nicht wohl, so einen – gefuehlt - Irren vor mir zu haben. Mit seinem mittlerweile verkrampft-steifen Zeigefinger zeigt er nun auf jeden einzelnen Mitfahrer, schreit dabei nun weiter herum: “JESUS! DEUS! MARIA!” Er laesst Flyer durch den Bus gehen und auch eine gebrannte CD mit ihm und seinen vielen Goldzaehnen auf dem Cover duerfen nicht fehlen. Was wuerde wohl in Heidelberg geschehen, wenn so jemand einsteigt und verbal losfeuert? Hier haben sich die Leute scheinbar schon daran gewoehnt, wortlos gehen die Flugblaettchen durch die Sitzreihen. Der Prediger bedankt sich nach gefuehlten 20 Minuten recht herzlich fuers Zuhoeren, bruellt in Duesenjetlautstaerke noch ein “MOEGE GOTT MIT EUCH SEIN!!!” ins Publikum vor ihm und steigt aus. Miterlebt habe ich das bestimmt schon fuenf mal. Was fuer eine verrueckte Welt.

Verrueckt auch dies: Eine befreundete, schon etwas aeltere Senhora lud uns kuerzlich zu ihrer Taufe ein. “Wow”, dachten wir, “eine Taufe ist ja schon ein besonderes Ereignis im Leben.” Die ganze Geschichte in Kurzfassung: nach einem drei-Stunden-Gottesdienst, der nichts mit dem Thema Taufe zu tun hatte, fragte der Pastor laut in die Menge “wer moechte denn gerne getauft werden?” 14 Leute meldeten sich schliesslich und wanderten nacheinander zu einer Art grossen Badewanne am Ende des Saales. Schoen nach der Reihe: eine kleine Segnung des Pastors, ein kurzer Tauchgang, ein Foto mit dem Pastor fuer die Familie - das wars. Die Massentaufe ging nach der zaehen Vorprozedur mit den vielen Powerpointsongs an der Wand recht schnell vorbei. Hatte ich mich anfangs noch ziemlich aufgeregt, dass die Kinder der Frau nicht an ihrem Taufgottesdienst teilnahmen, sondern lieber draussen herumlungerten, so war mir im Nachhinein klar, warum. Noch viel mehr, als mir am naechsten Tag dann ihr Sohn erklaerte, es sei ihre fuenfte Taufe gewesen. In der selben Kirche (Adventistengemeinde) wird uebrigens offenbar stark fuer den Vegetarismus gepredigt. Mir, der im naechsten Jahr sein 15jaehriges Vegetarierjubilaeum feiert, ist diese Idee natuerlich sehr willkommen. Schade nur, dass eigentlich dennoch alle, die diese Kirche besuchen, Fleisch essen. Warum das? Tja, Fleisch im Umkreis von Terra Mirim, der einzigen Vegetarierbastion (die Wachhunde ausgenommen), ist so guenstig, dass es sich kaum jemand leisten kann, darauf zu verzichten. Viele Leute haben ein Huhn, eine Ziege oder ein Laemmchen im Garten. Da muessen die Supermaerkte natuerlich die Preise ziemlich tief druecken, um ihr Fleisch an den Mann zu bringen. Den Tieren wird das nicht gefallen und auch die Adventistengemeinde predigt offensichtlich an der Realitaet vorbei. Soweit ist die Kirche also wohl nicht in der Alltag der Bewohner vorgedrungen. Aber, und nun komme ich zum letzten und meiner Meinung nach entscheidensten Teil dieses grossen Themas, an vielerlei anderen Stellen ist sie es.

Wie viele junge Frauen hier im Umkreis unter 20 Jahren ein Kind bekommen, diese Zahl wuerde mich sehr interessieren. Denn es sind mit Sicherheit einige. Liegt es daran, dass sie nicht aufgeklaert sind? Mit Sicherheit! Aber ist das wirklich der einzige Grund? Ich persoenlich hege meine Zweifel an dieser Sache. Denn die schwangeren Frauen sind nicht selten bereits verheiratet. Mit 18 Jahren zu heiraten ist gaengig. Und die Kinder sind ebenfalls nicht selten auch in diesem Alter schon gewuenscht.

Wie oft wurde ich z.B. von Kindern in unserer Oekologischen Schule gefragt, ob ich schon Papa sei oder zumindest Ehemann. Ein 19jaehriges Maedchen, die ebenfalls in der Schule mitarbeitet, will unbedingt dieses Jahr heiraten. Der Termin ist vorraussichtlich im Februar. Heiraten mit ihrem ersten Freund. Und wie schon gesagt: hier gruebelt dazu niemand “das ist doch noch sehr jung, schon in diesem Alter sein Ja-Wort zu geben.” Es ist einfach normal. Liegt es wirklich daran, dass die Jugendlichen hierzulande so frueh (“bis dass der Tod euch scheidet” )mit ihren Partnern zusammen bleiben moechten? Jede blond-blauaeugige Frau, die einmal durch Salvador laeuft, wird das wohl verneinen, hat sie doch mindestens fuenf “Anlockungspfiffe” hinter sich vernommen. Und das von Maennern jeglicher Altersklasse und manchmal auch von Maennern, auf deren Schoss gerade eine Frau sitzt.
Also gehen wir dann doch davon aus, dass die Leute es mit der Liebe hier gelegentlich nicht ganz so genau nehmen. Und trotzdem so frueh heiraten - wie kann das sein?

In Brasilien, oder zumindest in unserem Vale do Itamboatá hier, fuehrt der Weg eines frisch verliebten Paerchens unweigerlich ueber die Familien der Partner zum Glueck. Mutter und Vater muessen sozusagen das Glueck ihrer Kinder “absegnen”, damit es keine Probleme gibt. Klar, in Deutschland interessiert es die Eltern auch, wohin das Herz des Sohnes oder der Tochter abdriftet. Aber wenn der Partner oder die Partnerin keine totale Pflaume ist, mischen sie sich bei ihrem 20jaehrigen Sproessling doch nicht in seine Beziehung ein nach dem Motto “die kommt hier nicht ins Haus” (oder?). Da kann es also beispielsweise hier vorkommen, dass eine Familie versucht, Informationen ueber den anderen Partner und seine Familie einzuholen: - aber nicht, indem man das eigene Kind dazu befragt, sondern ueber Freunde, Bekannte und deren Bekannte. “Ist der Partner eine treue Seele?”, “Hat er gute Manieren?”, “Kleidet er sich gut?”, “Trinkt er?”, “Geht abends am Wochenende er brav in die Kirche?, in UNSERE Kirche?” Ja, soweit kann es kommen.

So geschehen bei einer Freundin von Dilan und mir. Jene war mit einem 18jaehrigen Jungen zusammen gekommen, dessen Eltern einer evangelikalen Gemeinde angehoeren. Leider ist ihre Familie aber katholisch, was hier lustigerweise - im Gegensatz zu Deutschland – als liberal gilt. Auch ihr sehr rockiger Klamottenstil schien den Eltern des Partners alles andere als zu gefallen. Also wurde die Liebe kurzerhand nicht gestattet. Die Familie der Partnerin laesst den Jungen natuerlich erst recht nicht ins Haus. Da bleibt eigentlich nur ein Ausweg: “heimliche” Liebe. Das klingt irgendwie hollywoodangelehnt. Oder etwa doch die Heirat und eine damit verhoffte Unabhaengigkeit vom Urteil der Eltern als Loesung? In diesem Falle ist es gluecklicherweise (oder ungluecklichweise) nicht so weit gekommen.

Die sexuelle Revolution nach europaeischem Vorbild hat in Brasilien nicht stattgefunden. Denn zu dieser Zeit herrschte hier die Hochzeit einer Militaerdiktatur, die sich bis in die spaeten 80er Jahre fortziehen sollte und die damaligen Generaele haben die Studentenunruhen in ihrem Keim erstickt, politische Saeuberungen und Aehnliches inklusive. Das konservative Familienbild wurde also im geschichtlichen Verlauf niemals wirklich angegriffen oder in Frage gestellt, wie es bei uns in Deutschland der Fall war. Das Urteil ueber den Partner oder die Partnerin sprechen die Eltern.
Dann muss man sich schoen gekleidet in seiner neuen Familie vorstellen, einen guten Eindruck hinterlassen und bescheinigen, dass man sich gut um seine Liebste oder seinen Liebsten kuemmert.

Und Fakt ist, dass die Konfession des “neuen Familienmitglieds” bei diesem Kennenlernprozess oft eine wichtige Rolle spielt. Man weiss als Eltern Bescheid ueber die anderen Kirchengemeinden im Dorf. Schliesslich wird in der eigenen Kirche ueber die anderen erzaehlt und die Bemuehungen, sich abzugrenzen sind deutlich. So hat jede Kirche ihre eigene Doktrin. Die “Christenversammlung” schreibt sich beispielsweise auf die Fahne, dass ihre Mitglieder keinen Alkohol trinken und mit der Kleidung nicht das andere Geschlecht reizen (also keine Rockerlaubnis fuer Frauen und aehnliche Spaesse.). Gerechtfertigt wird dies durch bestimmte Bibelpassagen. Die “Adventisten” sind zumindest auf dem Blatt Vegetarier und ehren den Samstag. Die “Dreieinigkeitskirchler” sind die eifrigsten Kirchenliedersinger. Das Selbstverstaendnis zum eigenen Glauben wird insgesamt sehr hoch gehalten und fliesst mit ein in eine Art Familienehre. Und da muss der neue Partner des Kindes ins Bild passen.

Man stelle sich vor, nach einigen Monaten harter Eingewoehnungszeit fuer die Verwandten bemerkt das Paerchen, dass es mit der Liebe doch nicht so gut passt, trennt sich und einer findet einige Zeit spaeter einen anderen Partner. Vor allem in einem kleinen Dorf wird dann an jeder Ecke getuschelt und gelaestert, denn schliesslich kennt jeder jeden und alle haben ihre Geschichten. Dann fuehlen sich die beteiligten Familien angegriffen. Und dann die beteiligten Kirchen. So fuehrt das vielleicht alles noch weiter zu einer Abgrenzung untereinander. Wollen wir aber nicht zu weit abheben und kein pauschales Urteil faellen. Sicher gibt es in Brasilien solche und solche Familien. Ich spreche hier auch deutlich vom Dorfleben, in einer Grossstadt wie Salvador sieht die Sache sehr wahrscheinlich anders aus.

Dennoch: heimliche Liebhabereien, Scheinehen, Untreue, eine Frau mit fuenf Kindern von vier Maennern, sehr fruehe Schwangerschaften und eben auch das Heiraten mit 18 Jahren – alles haben wir hier schon gesehen. Und es ist also womoeglich mitverursacht durch eine tiefverwurzelte, in irgendeiner Weise an den Glauben gekoppelte Familienehre. Jene nach Aussen zu praesentieren geht gelegentlich vor das persoenliche Glueck der jungen Menschen.

Das Leben kann man komplizierter machen, als es wirklich ist. Wie waere es stattdessen mit "Carpe Diem"?
Achja: Und einen grossen Dank an die 68er Revolution in Deutschland.
Teil 1 - Einblicke ins Gesundheitssystem
Teil 2 - Palmares, ein Dorf wehrt sich
Teil 3 - Salvador da Bahia
Teil 4 - Die christliche Kirche in Brasilien - ein Segen?

2 Kommentare:

  1. Hallo, guten Abend!

    Ich bin brasilianer, heisse Carol...ich weiss es nicht, ob ich auf Deustch oder Portugiesisch schreiben soll, deswegen schreibe ich am besten auf Deutsch, obwohl mein Deutsch gar nicht so gut ist!

    Ich bin adventistin und habe im google nach "deutsch adventist in brasilien" und dein blog ist zu mir gekommen!
    Ich habe es durchgelesen und es ist ganz interessant!
    Wieso bist du hier in Brasilien!?

    Ich wohne in Sao Paulo, habe aber die letzte 6 Monaten in DE gewohnt...
    Ich habe eine Hausarbeit über meines Glaubens geschrieben, auf deutsch, und könnte gerne dir schicken, wenn es dich überhaupt interessiert, natürlich!
    Ich bin auch vegetarier und es ist für uns vegetarier-adventisten, dass die meisten adventististen nicht vegetarier sind, obwohl es ein von unseren wichtigsten "glaubenspunkt" ist...Wir glauben, dass was wir essen, hören und sehen haben ein direktes Einfluss an unseren glaube und "verbindung" mit Gott...wenn mann Fleisch ist (nicht nur fleisch, aber auch), ist diese "Verbindung" viel schwächer und es ist einfachrer zu sündigen und schlechte sache machen...

    naja, habe schon vieles geschrieben! entschuldigung für mein schlechtes Deustch!

    MfG,

    Carol

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  2. Oi Carol,

    hab es erst jetzt gesehen. Gerne würde ich deine Arbeit mal lesen, finde, dass es sich um ein unheimlich spannendes Thema handelt! Vegetarismus ist eine super Sache: für sich selbst und für andere! :-)

    Schreib mir gerne mal eine Email com os seus dados.

    Lieben Gruß,
    Max

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