Donnerstag, 29. Oktober 2009

Kapitel 2: Weltwaerts werden

Einen sonnigen Gruss aus Terra Mirim!

Nach ereignisreichen Wochen moechte ich wieder einmal etwas erzaehlen vom Leben auf der anderen Seite des grossen Meeres.

Waehrend in Europa der Winter einbricht, Kernkraft wieder trendy ist und Guido "das ist Deutschland" Westerwelle Aussenminister wurde, durften 200 Millionen Brasileiros und Brasilieras feiern und zusehen, wie ihrem geliebten Praesidenten "Lula" in aller Oeffentlichkeit die Traenen ueber die Wangen kullerten. Was war geschehen? Olympia 2016 - Rio de Janeiro, es war Wirklichkeit geworden! Das erste Mal in der olympischen Geschichte kommt die Welt des Sports nach Suedamerika. Und Obamas Chicago erging es nicht anders als Stuttgart 2012. Als ob das nicht schon genug waere, gibt es fuer die verwoehnten Brasilianer noch die Fussball-WM 2014 als Sahnehaeubchen oben drauf (die Bewerbung fuer die olympischen Winterspiele laeuft bereits). Im folgenden Jahrzehnt ist fuer mich also urlaubstechnisch schon einiges entschieden, bzw. die sportlichen Ziele gesetzt. Aber nicht nur im Vergnuegungsgeschaeft ist meine neue Heimat im Oktober aktiv geworden: auch politische Signale wurden gesetzt. Stichwort 350. Wer meinen letzten Eintrag / die Rundmail gelesen hat, wurde am Wochenende vielleicht positiv ueberrascht von der Medienresonanz dieses weltweiten Klimatags. Tausende von Fotos, die die Zahl der benoetigten CO2-Konzentration in unserer Luft - 350 ppm - quer ueber den Erdball verteilt in verschiedensten Varianten darstellt, wurden schon gesammelt. Laut den Betreibern der Bewegung war der Tag ein voller Erfolg! In den naechsten Tagen wird nun versucht, den gewonnenen Zugang zum Bewusstsein ueber die Zukunft unseres Planeten in Druck auf unsere gewaehlten Volksvertreter umzuwandeln. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie sich die Dinge bis zum 7. Dezember, dem Eroeffnungstag der Weltkilmakonferenz in Kopenhagen, erntwickeln.

Ein Foto hat auch Terra Mirim beigesteuert. Im Rahmen des dreitaegigen EcoArt-Festivals in der Fundação wurde von zwei technisch begabten, jungen Frauen eine Seite des Gebaeudes der Umweltabteilung ("Ambiental") wunderbar bemalt. Der jaehrlich steigende CO2-Gehalt - grafisch dargestellt und benachbart vom Umriss einer riesigen Zahl 350. Jeder durfte einmal seine Hand bepinseln und dann bildlich sein Siegel ins Innere der Nummer setzen. Wie man dem Foto entnehmen kann, haben sich einige daran beteiligt. "EcoArt", da war doch was. Diese dreitaegige Veranstaltung findet einmal pro Jahr auf dem Gelaende der Fundacão statt. Alle Leute, Gross und Klein, aus dem "Vale" werden eingeladen, ein Wochenende voller Freude, Kunst und Umweltthemen hier mit zuerleben -und gestalten. Capoeiravorfuehrungen, ein Umwelt-Poet (ja, das gibt es!), Tanz -und Musikshows der Oekologischen Schule von Terra Mirim, ein Auszug aus einem Theaterstueck in einer psychiatrischen Anstalt und diverse Sambarunden sollten keine Langeweile aufkommen lassen. Alles unter dem Motto "Eu sou a teia da vida"- Ich bin die Kette des Lebens. Moderiert wurden die eng aufeinander folgenden Shows von Maria Isabel, Alba Marias (schon 34jaehriger!) Tochter, welche es gekonnt verstand, die Stimmung zu beleben und immer wieder Themen ueber unsere Beziehungen zur Natur in die Runde zu werfen. So bat dieses tolle Wochenende mit insgesamt mehr als 500 Besuchern in Terra Mirim weit mehr als nur einen Unterhaltungseffekt: bewusst zu leben, den Alltag zu hinterfragen, die Kette / das Netz des Lebens zu respektieren und zu verinnerlichen, dass wir in ewiger Symbiose mit unserer Erde leben - dazu wurden Denkanstoesse gegeben. Bewusst zu leben, das erscheint mir passend als Phrase zum Leben hier allgemein. Inmitten dieses wunderbaren Gartens Terra Mirim, voller Fruechte, Blaetter, Heilpflanzen, mit Wasser aus einer nahen Heilquelle versorgt, kann man sich wahrhaftig einmal die atemberaubende Vielfalt und Schoenheit dieser Welt vor Augen halten. Die Tiere leben im Einklang mit den Menschen, Affenbanden ziehen wissbegierig in den Baeumen ueber unserer Koepfe hinweg und geheimnisvolle Tropenwespen "Maribunda" (ich wurde schon zweimal gestochen - u.A. in die Nase) bauen faszinierende Nester. Alleine schon die soziale Organisation einer Bienenkolonie mit all ihren Arbeitern, Muelldeponien, Wachposten, Nahrungsdepots (Honig) und natuerlich der Koenigin ist ein unglaublich meisterhaftes Werk der Schoepfung. Kein Mensch koennte so etwas Perfektes erfinden. Er kann es nur zerstoeren.

Und er tut es. Ich tue es. Wir alle tuen es. Es beginnt bei der Kleidung die wir tragen und dem Fisch, den wir essen, geht ueber die Haltung von Nutztieren, deren Produkte wir verzehren und bis zum Strom, den wir verbrauchen (auch dieser Bloggeintrag heizt das Klima). Dabei vergessen wir fortwaehrend eine wichtige Tatsache, und dieses Vergessen ist wohl ein neurobiologischer Verdraengungsvorgang, der sich nur beim Homo sapiens abspielt: wir sind Saeugetiere! Wir brauchen Luft, Wasser und Nahrung, wie jedes andere Geschoepf auf dieser Erde auch. Und hiermit sind wir wieder beim Thema "bewusst leben". Die schamanistische Philosophie beschaeftigt sich viel mit den vier Elementen - Luft, Wasser, Erde (Nahrung), Feuer (Zellatmung) - , welche schlicht die Grundlage allen Lebens sind. Aber fataler Weise bildet man sich ein, darauf nicht angewiesen zu sein. Bis einmal etwas fehlt. Dann wird es einem wieder bewusst.Bewusst leben, das heisst sich vor Augen zu halten, dass meine Plastiktuete im pazifischen Muellstrudel landet und meine Kinder Fische mit Kunststoffgranulatstueckchen in deren Verdauungstrakten essen. Dass meine Autoabgase die Malediven ertraenken und Voelkerwanderungen in Gang gesetzt werden, die bis vor die eigene Haustuer gehen werden - Lampedusa und Co. sind erst der Anfang. Dass mein Stueck Rindfleisch den Regenwald in Brasilien wegen Sojaanbau (Rinderfutter) vernichtet und der Lungenkrebs dieser Erde alle anderen Organe in Mitleidenschaft ziehen wird, letztlich auch mich. Dieses Bewusstsein dauerhaft anzuschalten, das kann man hier lernen und es ist vielleicht ein Ideal, nachdem ich in Terra Mirim suche.
Heute wurde vor meinen Augen, keine 10 Meter weg, ein grosser Hund auf der Landstrasse vor unserer Bushaltestelle von einem Jeep mit Tempo 70 ueberfahren. Dieses Leid, dieser Schmerz, den dieses stolze Tier auf dem Gesicht geschrieben hatte. Mit leblosen Hinterbeinen und gebrochenem Becken sich zum Strassenrand schleppend, um dort einfach zu sterben. Es hat sich mir ins Gedaechtnis gebrannt. Genauso wie der Fahrer, der sich einen Dreck darum schert und weiterfuhr. Bewusst oder unbewusst leben?, das ist die Frage.

Um aber wieder auf den Boden der Tatsachen zurueck zu kommen: die “ganz normale” Arbeit gibt es natuerlich auch:
Einmal pro Woche darf man morgens um 7 Uhr den Gaertner in sich rauslassen. Denn dann versammeln sich alle Mitarbeiter der Fundação, um innerhalb von zwei Stunden ein Stueck des grossen Gelaendes zu entwildern. Dann wird die Machete geschwungen, Gras zusammengerecht, die Heckenschere ausgepackt und sich richtig schoen einzusauen. Bei Regen wird die ganze Sache noch schmackhafter. Schlamm fliegt durch die Gegend und die Waschmaschine freut sich auf neues Futter. Es ist eine schoene Sache, wenn man sieht, wie sich ein verhaeltnismaessig grosses Gartenstueck innerhalb von so kurzer Zeit wieder zugaenglich macht. Gleichzeitig fuehlt man sich erstaunlich gut, sich direkt nach dem Aufstehen zu verausgaben und danach mit dem Gefuehl fruehstuecken zugehen “jetzt haben wir schon was geschafft”!
Geschafft haben wir in den letzten vier Wochen noch mehr. Die Bibliothek ist bereits im post-perfekten Zustand angekommen. Nachdem wir sie gestrichen und jedes der circa 1000 Buecher einzeln kontrolliert und katalogisiert -, sowie neue Orientierungsschildchen angebracht hatten, konnte man diesen kleinen Raum mit ein wenig Eigenlob betrachten. Diese Woche waren nun die Kinder aus der Oekologischen Schule in der Bibliothek zu Gast, um eine kleine Lesestunde zu veranstalten. Hinterlassen haben sie uns dabei ein ziemliches Chaos. Man kann sich getrost fragen, warum Kinder, die noch nicht einmal richtig lesen koennen, so in der Spalte “Parapsychologie” gewuetet haben. Es ging wohl mehr darum, den Einband der Buecher zu begutachten, als darin zu lesen. Dilan und ich sind ausserdem dabei, ein wenig mehr in den Alltag und das Leben von Terra Mirim einzutauchen. So liessen wir es uns nicht nehmen, einen eintaegigen “Kurs” im Zubereiten frischer Saefte (Rezepte gerne auf Anfrage) hier zu besuchen. Verbunden wurde dies mit einer sehr ausgiebigen Gespraechsrunde unter der Leitung von Alba Maria, die sich vor allem dem Thema Gefuehl und Ernaehrung widmete. Man sass dann im Kreis beisammen im schamanischen Tempel. Aufgrund der komplizierten Erlaeuterungen von vielerlei psychologischen Geschichten ueber Essgewohnheiten, vielleicht aber auch wegen der gemuetlichen Atmosphaere, bin ich dann kurzerhand auf meinem Sitzkissen eingeschlafen. Dennoch habe ich einiges an interessanten Dingen ueber Fruechte und Gemuese gelernt, z.B. dass bei einer Wassermelone vor allem der weisse innere Rand sehr gesund ist und den Alterungsprozess verlangsamt! Angespornt von manchen Leuten, die hier leben, ueberlegen wir Deutschen und jetzt ernsthaft, hier einmal eine reine “frisch-gepresste Saftwoche” einzulegen, Denn bei richtiger Planung kann man so alle Naehrstoffe im richtigen Mass zu sich nehmen, die der Koerper benoetigt. Nur das schoene Gefuehl beim Kauen fehlt dann eben. Das faellt uebrigens auch unter die Kategorie “bewusst leben”.

Was uns das Leben hier ebenfalls immer schoener macht, ist der stetig besser werdende Kontakt zu den Jugendlichen aus dem Nachbardorf Palmares. Wir fuehlen uns jedesmal pudelwohl, wenn wir die 5-10 Busminuten vom Terra Mirim-Gelaende entlang der BA-093 fahren und dann aussteigen ins “richtigen Brasilien”. Das Lustige an der Sache ist: wir verabreden uns eigentlich nie richtig mit den Leuten. Stattdessen kommen wir einfach nur an und treffen aber immer direkt jemanden, mit dem wir singen, erzaehlen oder einfach nur Spass haben.Diese Leute sind wirklich zutiefst beeindruckende Menschen, stehen u.A. auch der afrikanischen Candomblé-Religion oder der Kommunistischen Partei Brasiliens nahe und oeffnen einem auf ganz erstaunliche Art die Augen fuer die Welt. Kennengelernt haben wir die meisten von ihnen bei einer Jugendlichen-Freizeit in Monte Gordo, einem ganz kleinen Doerfchen in der Naehe vom wohl schoensten Strand, den ich je gesehen habe. Unter dem Motto: “Schlafen ist verboten” haben wir ein ganzes Wochenende Selbstversorger gespielt, den Strand genossen (trotz Nieselregens) und morgens frueh um 6 Uhr Sambarunden gestartet. Da uns nicht angekuendigt wurde, was auf uns zukommt – naemlich quasi kein Platz zum Hinlegen – durften die wenigen und kurzen Schlafphasen mit der duennen Brasilienfahne als Decke und meinem Pullover als Kissen genossen werden. Unzaehligen Muecken erfuellte ich in jenen Naechten ihren Traum vom lebenslangen Nahrungsvorrat, es sollten bis zum letzten Tag etwa 150 Stiche an meinen Armen und Beinen gezaehlt werden. Aber das tat der guten Laune keinen Abbruch. Genauso wenig, wie die Tatsache, dass ich im Schlaf von caipirinhisierten Menschen des Oefteren mit Farbe bemalt wurde! Am naechsten Wochenende wird es in Palmares eine grosse Halloweenparty geben. Die oeffentliche Schule wird hierfuer ihren (kleinen) Schulhof zur Verfuegung stellen und ein DJ ist auch so gut wie organisiert. DJ, das bezeichnet hier den Menschen, der die CDs brennt. Der aktuelle Sommerhit ist uebrigens DIESER.

Pronto. Agora, vou continuar a trabalhar. Tenho que alimentar as abelhas. Um grande abraço para vocês e até mais!

1 Kommentar:

  1. cool was du da machst!
    zu schade, dass ich dich nich ma sehn kann.
    schöne bilder haste auf´m blog
    die kids auf den bildern sehn ja nett aus.
    schon der anakonda übern weg gelaufen?
    welche schlangenarten haste eingentlich schon gesehn?
    ach übrigens wir ham jetz unsern neuen wagen.
    is voll coll, mit alles wo geht.
    leider könn wa mit dem navi nich nach brasilien navigieren
    sonst wärn wir schon längst da.
    in der autostadt ham wa ne werkstour gemacht und erfahrn, dass
    fast alles nur von robotern gemacht wird.
    aber wie das in so na halle riecht, bäääääää.
    und wie gehts dir so,
    kannst mir ja ma mailen gel.
    schöne grüße aus braunschweig und weiterhin
    schönes schaffen (würde papa jetzt sagen)

    bye, dein paul

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