Freitag, 1. April 2011

Abschlussbericht "Meu Brasil"

Oh mein Brasilien! Wie lange lieβest Du mich warten?

Kam der 19jährige Schützling nicht naiv zu deinen Gefilden, um der Welt einen kleinsten Teil seiner Schulden zu tilgen? 500 Jahre alte Schulden?
Lebenslange Leichtigkeit - auf Kosten unserer damaligen Sklaven, die wir so überheblich Menschen aus der "Dritten" Welt zu nennen wagen. Sind wir also die Menschen auf Platz Eins der Weltordnung?
Hochmut kommt vor dem Fall. Aber suchte ich nicht auch nach dir, um mich an deiner Sonne, dem Meer, Caipirinhas, Körperkultur und Lebensfreude zu erlaben? Nicht, um mich im Gesang deiner Bäume zu wiegen und mich lüstern vom Geschmack der Maracuja überwältigen zu lassen?

Nicht, um abzuschalten, einen Schritt vor die Tür des Hauses der Leistungsgesellschaft zu wagen?
Nicht, um eine wunderschöne Sprache zu erlernen?
Nicht alles schon sofort, nach 2 Wochen?
Hochmut kommt vor dem Fall.

Sozial ist, Kindern etwas beizubringen, auch wenn man ihre Wörter und Gedanken nicht versteht?
Sozial ist, kostenlos Essen, Spielzeuge, Kleidung an "Bedürftige" zu verschenken? Sozial ist, helfen zu wollen?

„Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse als Nehmen. Das ist meine Armut, daß meine Hand niemals ausruht vom Schenken [...] O Unseligkeit aller Schenkenden!” (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II)

Wer wollte hier eigentlich wem helfen und wer wem etwas schenken?
Nicht etwa vielleicht ich selbst meinem Gewissen? Meinem Heldenideal?

Bedrückend war es, die ersten zwei Wochen täglich 4 Stunden alleine durch einen Dreimillionenmoloch mit dem Bus zu fahren, um einen (unbefriedigenden) Portugiesischkurs zu absolvieren.
Auch das "soziale" Arbeiten mit dem Unkraut war mir zu Beginn suspekt.
Meine neuen Mitbewohner hatten sich in unsere Vorgänger verliebt, die fünf Tage vor meiner Ankunft von dannen zogen und gebrochene Herzen hinterlieβen. Gleichzeitig hatte deren all zu freie Interpretation der 18-Ferientageregel und der Arbeitszeiten die brasilianischen Chefs auf den Plan gerufen, welche mit Entschiedenheit darauf reagieren wollten - unglücklicherweise erst mit einjähriger (obligatorisch bahianischer) Verspätung bei uns neuen Freiwilligen.

Warum nannte man die Chefin des Projektes eigentlich "Meisterin" oder "Donna" und warum hängt ihr Bild in ihrem Tempel zwischen Jesus und Krishna und auch an sonst jeder freien Ecke im Projekt? Weshalb war jede Volleyballstunde, die ich so abwechslungsreich wie möglich gestalten wollte, für meine vorpubertären, sich ständig streitenden und durch evangelikale Sekten zum Durchdrehen gebrachten Schülerinnen "langweilig" und stattdessen mein "hässlicher“ Bart oder angebliche Voodoo-Rituale auf dem Nachbargelände interessanter?
Hässlich waren hingegen tatsächlich die nicht gerade angenehmen, eiternden Furunkel unter den Achseln.
Auch nicht zu vergessen: das Nest von Vespula squamosa, der Atlantischen Urwaldwespe, das ich nach unserem einzigen und ersten Rendez-vous mit einem etwas aufgequollenen Gesicht verlieβ und der vier Zentimeter lange verrostete Eisennagel, der sich eines schönen Tages durch meinen FlipFlop bis tief in den rechten Fuβ bohrte.

Wo war plötzlich meine mich schützende Familie? Meine Freunde, mit denen ich lachen kann und die einen aufheitern, wenn es mal nicht so läuft wie gewünscht?

Das mit den Caipirinhas war jetzt auch nicht so "easy", angesichts der Tatsache, dass ich im Nachbardorf wohl von einem verkappten KGB-Agenten beim genüsslichen Leeren eines Bierbechers bespitzelt wurde und dies panische Ängste um den Ruf meiner Organisation schürte.
Was war nur geworden aus dem Menschen aus der "ersten" Welt? Ein stillschweigender, auf sein Zimmer zurückgezogener, keine Miene verziehender Lesewurm. So hatte sich das Max S., 19, eigentlich nicht vorgestellt mit dem "raus in die neue Welt" Ziehen.

Es sollte tatsächlich fast ein halbes Jahr dauern, bis er seinen inneren Frieden mit Brasilien schlieβen sollte. Und letztlich, nach weiteren sechs Monaten, sind sie sogar dicke Freunde geworden. Oh mein Brasilien!
Spät fanden wir zu einander – dafür sollten wir dann regelrecht kollidieren.

Nun musste ich Dich wirklich kennen lernen! Endlich liefen auch mir deine himmlisch weichen Wörter über die Lippen - und so unterhielten wir uns einmal richtig.

Du gabst mir zu verstehen, dass man in deinen Ländereien immer doppelt so viel Zeit für alles benötigt, in Bahia sogar vier Mal so viel. „Geduld“, lieβest Du mich wissen, „ist der Schlüssel zum Glück.“ Es ist normal, wenn Treffen um 13.00 Uhr eigentlich um 14.00 Uhr beginnen oder die vielen neuen Menschen eine Umgewöhnungszeit benötigen, wenn ein fremdes Immunsystem mal durchdreht und das Loslassen schwerfällt, wenn man nicht gleich Cheforganisator von fünf Projekten wird, wenn Oberflächlichkeit und nicht kunstvoller Humor die ersten Sprachschritte prägen, wenn sich ein deutscher Abiturient und ambitionierter Naturwissenschaftler in eine äuβerst empirisch ausgerichtete Wohngemeinschaft einfügt, wenn man vier Stunden Busfahrt für 30 Kilometer benötigt und Gringos aus Prinzip mehr zahlen als Bahianos – nimm`s locker, tem que relaxar um pouco!“ So rietest Du mir, ein wenig umher zu reisen und zu sehen, welche riesigen Schätze Du verborgen hieltest.
Nach Foz do Iguaçu, wo das Reich von Oxum, der schwarzen Göttin des Süβwassers, liegt und wo es sich riesige Schmetterlinge auf unseren Händen bequem machten.

Ins Pantanal Matogrossense, wo Wasserschweine, Kaimane, Riesenotter, Brüllaffen, Aras und Königsgeier (noch) den Goldgräbern und Wilderern trotzen. Deine sandige Pracht lockte mich auf die Insel Boipeba, wo sich eine romantische Bucht hinter der anderen verbirgt und wo des Nachts die Sterne den Delfinen die Wege weisen, während die Mangroven ihre Labyrinthe aus Wurzeln im Rythmus des Mondes wiegen. Durch die Täler der Chapada Diamantina, in der einem wie selbstverständlich seltenste Pflanzen begegnen, wo „Milch und Honig“ flieβen und Edelsteine auf dem Grund der goldenen Wasserfälle verborgen liegen. Zur Meeresschildkrötenaufzucht am Praia do Forte, zum unendlichen Hochhäusermeer São Paulos, mit dem Fluggefährt hinweg über die Statur des Jesus von Rio de Janeiro, durch die Gassen der kolonialen Altstadt von Salvador mit ihren Trommlern und Capoeiristas, entlang der gröβten Karnevalsumzüge der Welt. Ja, einmal sollte ich Dich sogar für zwei Wochen hintergehen und mit meinem Rucksack die Atacamawüste bestaunen – vergib mir.

Eine sehr weite Reise unternahm ich ebenso in mein Inneres. Deine Jahrtausende alten schamanischen Bräuche halfen mir, ein tieferes Bewusstsein dafür zu gewinnen, wer ich eigentlich bin, wo meine Wurzeln liegen, was ich will.

Und kaum warst Du mir sympathisch, so klappte es auch mit den ernsteren Dingen der Expedition. Vertrauen und Verantwortung übertrugst Du spät auf mich, doch sollte ich Dich nicht enttäuschen!
Einkäufe auf dem Groβmarkt, Übersetzungen von Filmen, Musikmeditation in öffentlichen Kindergärten, die meist lustige Mathespielstunde in der Schule, die Mitgestaltung einer neuen Jugendgruppe, das indirekte Wiederaufforsten durch die Züchtung von einheimischen Bienenvölkern, die Aktualisierung der Terra Mirimblogs - so langsam nahm die Arbeit Hand und Fuβ an. Natürlich durfte auch die Gartenarbeit nicht komplett fehlen, doch auch sie begann mir nun, da die schweiβtreibende Umpflügerei den Körper des Herkules von Heidelberg stählte, Freude zu bereiten. Und mit den Muskeln wuchsen nun auch die Freundschaften.
Ja, liebes Brasilien, ich muss dir einfach von Herzen dafür danken, dass Du so wunderbare Menschen dein Eigen nennen darfst.

Klar, wie überall gibt es schwarze Schafe und leider laufen unter deiner Herde auch ein paar bewaffnete Exemplare über die Weiden abgebrannter Regenwälder. Und Du hättest ihnen auch ruhig beibringen dürfen, ihren Plastikmüll nicht als ultima ratio auf die Straβe zu werfen und zu verbrennen! Jeder macht Fehler, auch deine gerissenen, falschen und korrupten Politiker machen nur nach, was ihnen ihre weiβen Brüder aus Übersee jahrhundertelang beigebracht haben. Und selbst wenn deine Bewohner ihr Kinderbier dem deutschen Reinheitsgebot vorziehen: die Sonne scheint aus ihren Herzen! Lass uns zusammen lachen über diese lachhafte Welt, die uns verschieden-gute Welten suggeriert. Wir wissen, dass es nur eine gibt. Und das ist die unsere. Versprich mir, dass wir uns treu bleiben werden. Dies ist ein Pakt. Dass unsere Liebe niemals verloren gehe, dein Meer niemals kalt werde, deine Sterne niemals ihren Glanz verlieren, der sich auf ewig in meinen Augen wiederspiegeln möge. Wenn ich sehnsüchtig in Deutschland am Neckarufer stehen werde, dabei die Augen schlieβe und an unser gemeinsames Jahr zurückdenke, so weiss ich, dass wir diesen Kampf gemeinsam gewonnen haben und, dass uns diese Verbindung auf ewig niemand mehr nehmen kann.

Oh mein Brasilien!
Wann sind wir wieder vereint?

Deus lhe abençoe, minha terra amada.
Não precisa ter medo nunca das tarefas que ainda estarão adiante de nós.
E quando você me quiser voltar, só basta me mandar um dos seus sonhos lindos que sempre me oferecia no lugar sagrado da Terra Mirim.
A paz esteja conosco.
Obrigado para tudo.

Seu Max

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