Mittwoch, 2. Juni 2010

Tambien está possible en el Chile?!

Saβ die Nostalgie im letzten Sommer allgemein entsprechend tief, als sich nach dem überwundenen Reifeabschluss ein Weltenbummler nach dem anderen in verschiedene Richtungen orientierte - nach Israel, Berlin, Nordirland, Köln, Nepal, Uganda, Südafrika, Colorado, Argentinien oder Hohenheim im Kreis Stuttgart -, so blieben jedoch drei wackere Siedler dieser Gemeinschaft zurück, die in einer verregneten und stürmischen Nacht in der dunkelsten Ecke der hintersten Kneipe der Stadt an einem Pakt der Glückseeligkeit schmiedeten.

Während ein trüber, grauer Zigarettenrauchschleier die Umrisse der alten Spielunke vernebelte, die meisten der einzelnen, älteren Besucher ihren biergestillten Kehlen eine mitternächtliche Auszeit verschafften und ihre Köpfe schnarchend auf der abgewetzten Holztheke niedergelassen hatten, sowie die in die Jahre gekommene, ächzende Musikanlage mit schlimmsten Country Hits der Spätfünfziger dafür sorgte, dass dem müden Wirt auch bloβ keine neuen Kunden mehr ins Haus kommen sollten, wurde in der besagten dunklen Ecke heiβ debattiert. Jeder der drei hielt eine kleine Karte in der Hand. Nun wurden diese auf den Tisch gelegt und aufgedeckt.

"Bolivien, Dorfkulturzentrum in einem Andendorf" sagte Julian, "Brasilien, Schul -und Bürgerprojekt im Regenwald" Max und Jonathan eröffnete "Ecuador, Fair Trade Handel in der Sierra". Ernste Blicke wurden unternehmerisch-cool untereinander ausgetauscht, man denke in etwa an Agent Smith aus "Matrix", ehe die drei auf die vor ihnen liegende Südamerikalandkarte herabsahen, welche an den Rändern schon völlig in der feuchten Biersuppe des Holztisches aufzuweichen drohte.

Wie aus dem nichts zog jeder synkron eine Reiβzwecke hervor und haute sie mit lauter Wucht in die Karte, so dass der betrunken wirkende, von Falten, Frisur und Bart her an Zauberer Gandalf erinnernde Thekenschnarcher zumindest kurz ins Stottern geriet. Die Karte zeigte nun die Stellen, von wo aus offensichtlich jeder der drei Südamerika zu entern gedachte. Tausende Kilometer voller Berge, Riesenflüsse, Dschungelgestrüpp, Rinder -und Kokafarmen trennte die Positionen voneinander.

"Wo, wie, wann?" klang es im Smith-Akkord auf. Es wurden verschiedenste Vorschläge von jedem in die Runde geworfen. "In Kuba einen Trabbi mieten, Salsa tanzen, bei Zigarren und Rum." ("Nein, drei der vier Sachen schaden dem körperlichen Wohlbefinden"), "Maccu Picchu und Cuzco erklimmen, die verborgene Inka-Schatzkammer suchen und finden! Anschlieβend einen 6000er nach dem anderen hinter uns lassen" ("Deine Mutter, aber nicht mit mir."), "Jungs, einfach nur Strand und Wellen?" ("Gibt's auch in Mitteleuropa."), "auf dem Floβ bis zur Osterinsel?".

Es sollte schier kein Ende an kreativen Einfällen und rhetorischen Konterschachzügen geben, bis schlieβlich nach einer kurzen Pause, in der alle drei gleichzeitig einen befreienden Schluck von ihrem 0,5-Liter Export-Weizen nahmen, ein Geistesblitz durch die angespannten Gesichter der drei waghalsigen Abenteurer zuckte:

"CHILE!!!! 10. APRIL!!!!"

durchbrach die Druckwelle des Schreies das Westvirginia-Gedudel der Kneipe und verdrängte sogar das laute Geräusch des Regenprasselns auf der Straβe.

Mit einem Mal waren alle Augen, die noch zuvor geschlossen und verranzt auf dem Tresen lagen, ungläubig auf die drei Halbstarken gerichtet und auch den kinnlade-offenstehenden Herren an den anderen Tischen im Raum blieb nichts anderes übrig. Die grauen Dunstschwaden schienen wie verflogen. Der alte Mann mit dem weiβen Zaubererbart erhob sich nun als letzter von seinem Platz und langsam, ganz langsam zeichnete sich ein Grinsen auf seinen Lippen ab, während er sich zur verdutzt dreinblickenden Menge umdrehte. Nun schwang er seinen Bierkrug energisch, ja, mit gerade zu jugendlichem Elan in die Höhe und brüllte hoch und laut "Auf Chile, auf das Leben, Carpe Noctem, Yeehaa!". "Yeeeehaaaa!!!" erwiderte der komplette Kneipenmob und es gab ein Fest bis in die frühen Morgenstunden, das die Welt noch nicht gesehen hatte. ----------------------------

Szenenwechsel. Santiago de Chile, 11. April 2010, 5 Uhr morgens.

Wie aus heiterem Himmel wurde ich laut aus dem Schlaf gerissen. Irgendein Handy klingelt, an der Tür klopft es. In meinem Kopf klopfte auch was, beziehungsweise hämmerte gewaltig. Was war geschehen? Halten wir kurz inne.

Am Vorabend war ich erfolgreich in Chile angekommen. Die Vorfreude, die ich während der ganzen Zeit in Brasilien auf diese zwei Wochen gehegt hatte, war riesig gewesen. Wenn ich gerade mal nicht so gut drauf war, so konnte ich getrost in die Zukunft auf diesen 10. April blicken - quasi eine präaktional-visionäre Therapie. Und genauso gab es auch immer wieder Momente, z.B. beim Karneval oder meinen recht einsamen VfB-Championsleague-Abenden, in denen ich dachte: "Was würde ich jetzt darum geben, mit den beiden hier zu sein und sich das gemeinsam anzuschauen!"

Und dann war ich also da. Nach einem anstrengenden Tag voller Fliegerei, Langeweile und Schlaf landete ich schlieβlich abends in Santiago. Per Taxi fuhr ich direkt zur WG einiger anderer Freiwilliger meiner Entsendeorganisation Amntena, die ihre Projektarbeiten in verschiedenen Einrichtungen in Santiago durchführen. Irgendwie konnte man auf den ersten Blick, obwohl es bei meinem Aufsetzen auf chilenischem Boden schon dunkel war, sehen, dass hier Vieles anders sein sollte, als in Brasilien. Die Straβen sind gut ausgebaut, trotz sichtlichen Schäden an manchen Brücken wegen des Erdbebens, in Santiagos Innenstadt sieht man sofort viele sehenswerte Gebäude und Parkanlagen, der Verkehr verläuft gut geordnet, weitestgehend mit neueren Autos, die in Salvador und Umgebung sicher schon zur Upper-Class gezählt werden dürften.

Natürlich ist auch die Sprache eine andere - aufgrund des 1492 geschlossenen Vertrages von Tordesillas (die Gino's-Eselsbrücke) zwischen den spanischen und portugiesischen Kolonialherren/mördern.
Das (chilenische) Spanisch klang für mich auf Anhieb sympathisch. Da ich in der Schule nie etwas mit anderen Sprachen als dem Englisch zu tun haben wollte - Französisch ist schuld! -, hatte ich mich bis zu diesem Jahr auch nicht ums Spanisch geschert. Gut, da war einmal der Malle-Urlaub vor einigen Jahren mit meinem Vater, aber soweit ich mich erinnen kann, sprachen dort alle Deutsch.

Umso erfreulicher war dann meine erste spanische Unterhaltung mit meinem Taxifahrer, die sich sogleich tiefgründigen Interpretation zum im Radio laufenden Geigenspiel des André Rieu widmete. Wie wunderbar! Eine Sprache, die man noch nie wirklich gehört hat und trotzdem versteht, weil man die "Schwestersprache" beherrscht. Ein nettes Gefühl.

Auch deswegen, weil der Herr mit dem Fable für Klassik meine meist brasilianischen Antworten genauso gut verstand. Solcherlei Begegnungen sollten mir noch öfters in den nächsten Tagen die Kommunikation erleichtern und nun steht mit Einschränkungen fest: sprachlich habe ich nicht nur Brasilien, sondern ganz Südamerika erschlossen. Daran hätte ich in den ersten drei Monaten meines Aufenthalts nicht einmal im Traum gedacht! Die Tatsache mindert nun nicht gerade die Chancen, diesen atemberaubenden Kontinent noch öfters zu besuchen - auch über die Grenzen des neuen "zweiten" Heimatlandes hinaus.

Der Rest des Abends war übrigens sehr amüsant - durch den verschlafenen Tag hatte ich sozusagen ein Anti-Jetlag, was sich in völliger nächtlicher Verausgabung im Szeneviertel Santiagos entladen musste. Nachdem ich freudig die anderen Amntena-Freiwilligen wiedersehen durfte und es viele Erfahrungen auszutauschen gab, lieβen wir es uns nicht nehmen, diese glückliche Begegnung gebührend zu feiern.

Spät nachts gegen 4 Uhr kamen wir wieder in der WG an und nun schlieβt sich der Kreis.

Eine einzige Stunde Schlaf und schon riss mich das Poltern am Fenster aus meinen noch nicht einmal richtig begonnenen Träumen. Ein blonder, gut aussehender, charmant grinsender, wohlgenährter, Lederjacke tragender, netter Mann stand mir gegenüber - Joshi, wie er leibt und lebt! Jubelhochjauchzend war die Müdigkeit mit einem Schlag wie verflogen. So lange hatte man sich nicht gesehen, so viele Dinge gab es zu erzählen, so viele Pläne zu schmieden. Wie lange wir nun frohen Gemüts und dem Leben dankbar im Hinterhof saβen, jegliche Essens und Getränkereste des Vorabends vernichteten, während sich langsam die Morgensonne über der Smogglocke Santiagos erhob, weiβ ich nicht.
Diese Begegnung der Wiedervereinigung hatte irgendwie etwas Surreales an sich. Da sitzt auf einmal dein jahrelanger Weggefährte vor dir, als hätte man sich erst gestern verabschiedet. Und gleichzeitig weiβ man natürlich, dass das ganz und gar nicht der Fall ist - zusätzlich auch noch tausende Kilometer von jeglichen uns beiden bekannten Ufern dieser Erde entfernt.

Doch wie uns das Glück nun einmal hold war, so mussten wir es noch zu einem weiteren Zusammenschluss zwingen. Der Dritte im Bunde, Schulz, wartete bereits im 1500 Km nördlich gelegenen San Pedro in der Atacamawüste. Da der nächste VIP-Reisebus erst abends starten sollte, machten wir einen ordentlichen, bitter nötigen Mittagsschlaf in der WG, nicht ohne vorher das Vanillehafermüsli und die Weintrauben zu frühstücken (vielen, vielen Dank an Jonas und Co. für diesen Komfort).

Und dann die Busfahrt. 24 Stunden. Die gingen recht schnell vorbei. Ich bekam eine deliziöse Kostprobe neuer deutscher Musik zu hören, wir lieβen uns gutes chilenisches Gebäck schmecken, 100 mal besser als das brasilianische Pendant (viva Empanada!), bewunderten die an uns vorbeirasende Landschaft sich mischender Bergriesen, karger Wüste und Küstenstreifen. Nicht zuletzt schliefen wir noch ein wenig. Siehe da, so waren wir auch schon in San Pedro. Samstag früh war ich in Brasilien aufgebrochen, jetzt, am Montagabend durfte die Reise endlich beginnen!

Dann stand er auch schon vor uns: bärtig wie wahlweise Reinhold Messner oder Klaus N.-B., die gewohnte Lockerheit im Gemüt, Grinsebäcksche - der gute alte Julian, wie wir ihn lieben! Wieder so ein wunderbarer Moment, als er plötzlich vor uns in der Türe des Hostals stand. Vermissung ade, die nächsten zwei Wochen war er unser, um das längste-dünnste Land der Welt unsicher machen.

Leckere Pizza und vielerlei Geschichten versüβten uns den geselligen Abend unter dem klarsten Sternenhimmel -und am trockensten Fleck der Welt (wenn man jetzt einmal den Südpol ausklammert). Gegenüber der Leichtvariante aus Brasilien hatte das chilenische Bier recht schnell unsere Herzen erobert. Hach wie schön - die Trinität war wieder hergestellt. Es wurden waghalsige Pläne für unser weiteres Vorgehen besprochen. Abgesehen von der Wüste wollten wir auf jeden Fall auch Meer, Stadtkultur und Berge zu Gesicht bekommen. Würden wir das in nur zwei Wochen alles unter einen Hut bekommen? Am nächsten Morgen, nach einem deftigen Frühstück, machten wir uns auf den Weg, um einen geeigneten Abenteuerveranstalter zu finden. Wir wollten das sogenannte "Sandboarden" ausprobieren - eine Mischung aus Snowboarden und Sand. Man schnallt seine beiden Füβe auf ein Brett und versucht, eine Sanddüne heil hinunter zu schieβen. Das sollte uns sogar ganz gut gelingen, der schwierige Teil des Unternehmens bestand eher darin, nach jeder Abfahrt das Brett wieder den Hügel hinaufzutragen. Immerhin befanden wir uns in einer hochgelegenen Wüste, etwa auf 3000 Meter ü.M. Meiner nicht gerade an die Höhe gewohnten Lunge machte das spürbar zu schaffen, trotz eines vergleichsweise kurzen Aufstiegs klopfte mir danach das Herz wie verrückt und die Luft schien irgendwie luftarm zu sein. Aber das war es auf jeden Fall wert!

Ein unglaubliches Panorama erwartete uns oben auf dem Hügelchen. Keine Wolke am Himmel, Fels -und Gesteinsformationen in alle Richtungen, die seit Urzeiten Klimaschwankungen und der brennenden Sonne trotzen, Vulkane in der Ferne, wo sich auch die Grenze zu Bolivien befindet.

Hinab geschwind - wie der Wind, ohne Rücksicht auf Verluste. So boardeten, nein besser: flogen, schlitterten, fielen, kugelten wir die Düne hinunter. Auf zu Olympia 2016 in Rio de Janeiro. Unser Guide fuhr uns im Anschluss noch auf ein Hochplateau inmitten der vielen gelb-braunen Schluchten, zum Rande des Vale de la Luna. Dort senkte sich die Sonne in ihrer violetten, blutroten Pracht und hüllte die komplette Atacamawüste in ein Meer aus langgezogenen Schatten. Ein sehr intensives Farbenspiel der ganz besonderen Art. Caspar David Friedrich hätte hier seine Staffelei aufgestellt, wäre es ihm damals möglich gewesen, her zu kommen.

Unseren zweiten und letzten Tag in San Pedro wollten wir noch einmal für einen schönen Ausflug nutzen. Mit einem dicken, alten Auto rumpelten wir weiter in die Berge hinauf, im Kofferraum die Mountainbikes. Eigentlich muss ich ja gestehen, beim Fahrradfahren jemand zu sein, der gerne die höchsten Gipfel erklimmt und jeder noch so unschaffbaren Herausforderung ins Auge sieht. In unserem Fall aber war ich nun doch recht froh, dass man eigentlich nur sitzen und bremsen musste - den 6000er Gipfel (ich habe in meinem Leben noch nie einen so hohen Berg gesehen!) sahen wir uns lieber von unten an, während wir so dahin düsten. Nicht allerdings, ohne vorher noch die thermischen Quellen zu testen, die ein wenig bergauf einem Vulkan entspringen. Ein schönes Bad inmitten eines Hochwüstencanyons genommen zu haben, das kann nicht jeder von sich behaupten. Wunderschöne Fotos wurden ebenfalls geschossen, die ich hier so liebend gerne gezeigt hätte. Warum nicht, dazu später.

Nach unser Abfahrt, bei der wir schlappe 1000 Negativ-Höhenmeter hinter uns lieβen, ging es gleich weiter. Unsere Wanderrucksäcke wurden geschultert, dem nicht immer liebenswürdigen Hostal Sonchek kehrten wir den Rücken und ab gings in den nächsten Nachtbus. Der straff organisierte Urlaubsplan musste abgearbeitet werden. Und so ging es nun in Richtung Meer. Am Fuβe der Wüste, die sich an einem Küstenabschnitt rasand in den Pazifik herabwindet, befindet sich Iquique, unser nächstes Ziel.

Es folgten drei gemütliche Tage Strandurlaub, wie er im Bilderbuche steht. Unser Hostal lag direkt an einer Bucht, was wir nur all zu gut auskosteten. Rummgammeln, Musik hören, Turnübungen frei nach Fabian Hambüchen, Fuβball gegen die Chilenos - eigentlich ein ernstzunehmender alternativer Entwurf für mein Leben nach dem Freiwilligendienst. Ergänzt wird dieser Plan noch durch den unfassbaren Genuss des brettlosen Bauchwellensurfens, dem wir uns passioniert hingaben. Vom ein oder anderen 4-Meter-Brecher wurden wir nach allen Regeln der Kunst zerbröselt - es gibt nichts Schöneres auf dieser Welt! Natürlich sind wir keine Kulturbanausen. Ein kleiner Rundgang durch die Altstadt des ansonsten eher von Plattenbauten gesäumten Iquique gehörte auch zum Programm. Lustigerweise fühlten wir uns ein wenig in einen alten Westernfilm versetzt. Die Häuser erinnerten vom Stil her an die Lucky Look Zeit - mit ihren Saloons und Sheriffsquartieren, Holzterrassen und linealgeträuen Häuseranordnungen nach Mannheimer Vorbild. Auch dem Fischmarkt statteten wir einen Besuch ab. Was so mancher als Fischgeruch bezeichnen mag, ist für mich persönlich eher ein Gestank der Verwesung. Auch die vielen anderen halbierten Meerestiere auf den Auslagen, die mich aus ihren groβen, toten Augen anstarrten, riefen bei mir nicht eben Hunger hervor. Schnell weiter. Zur Strandpromenade, von der aus man wunderbar die vielen Surfer von Iquique bestaunen konnte, die wie wild die Wellen durchbrachen, durch die Gegend geschleudert wurden und ihre Sprünge zum Besten gaben.

Zur Kultur gehört natürlich auch eine angemessene Teilnahme am Iquiquer Nachtleben! Was hatte ich gefastet und geschmachtet? Was hatte ich koscher, zöllibatär, ramadanisch, gesund und faul in meinem Regenwald herumgeschimmelt, in dem um 8.00 Uhr abends die Lichter ausgehen, damit die Leute am nächsten Morgen um 6.00 Uhr zum schamanischen Yoga fit sind? Nach so unglaublich lang ersähnten sieben Monaten betrat ich zum ersten Mal wieder eine Diskothek. Endlich, endlich, endlich wieder Carpe Diem et Noctem! Es musste ausgekostet werden...

Irgendwann spät nachts saβen wir zu dritt auf einem Baywatchhochsitz am Strand. Erschöpft waren wir diesen hinaufgeklettert, um uns von der anstrengenden Party unter uns ein wenig zu erholen und die frische Meeresbrise auf unsere gebräunten Gesichter einwirken zu lassen. Was uns wohl durch die schon etwas betrübten Köpfe ging in diesem Moment? Bei mir war es in etwa folgender Gedankenstrom: "Tanzmusik ist nicht ausgestorben, welch ein Segen! Wie lange ist es her, dass man einmal auf einer Fete getanzt hat, ohne wegen seiner Hautfarbe schräg angeschaut zu werden? Ohne billigste, monotone bahianische Fäkalmusik mit zugehörigem Fäkaltanz, den ich auch nicht beherrsche(n will)? Ich habe Durst. Bringt mir einen Cocktail. Wie schön ist doch das Meeresrauschen und die hellerleuchtete Hochhaussilouette Iquiques. Dieser Moment am Ende der Welt. So verweile doch, oh Augenblick!" Doch daraus sollte leider nichts werden. Ein Unbekannter war uns auf den Ausguck gefolgt und seitdem kann sich keiner von uns mehr an etwas erinnern.

Am nächsten Tag waren wir alle ein wenig müde. Der Blonde von uns dreien war gänzlich erschöpft vom Vorabend und lummelte sich den ganzen Tag mit seiner Kippa auf dem Kopf und in sein Handtuch eingehüllt im Sand herum. Da wir erst nachmittags aufgestanden waren, ging der Tag auch dementsprechend schnell herum. Den Abend vertrieben wir uns mit Billiard und einem Meisterwerk moderner Filmkunst, alias "Jackass the Movie II". Ein Streifen, in dem eine Bande hohler Menschen noch hohlere Dinge praktiziert. Sich von Riesenschlangen beiβen lässt, nackt oder als Affen verkleidet die Straβen New Yorks unsicher macht, mit Propangasflaschen als Antriebsraketen in Einkaufswägen Steilhänge hinabrast, um kurz darauf einen Gemüsestand dem Erdboden gleich zu machen, sich als Fischköder in karibische Haigewässer hinablässt. Wie der gemeine Leser erkennt, hatten wir endlich das angestrebte Niveau unserer gemeinsamen Urlaubszeit erreicht. Wieder eine lange Nachtbusfahrt, einige Hundert Kilometer waren wir die Küste Chiles hinabgefahren, um nun anderthalb Tage in La Serena zu zubringen. Doch was war das für ein Schock, als wir am neuen Ort eintrafen und ich im Hostal meinen Reiserucksack öffnete: Kamera und Handy. Weg.
Es konnte einfach nicht wahr sein, die vielen schönen Bilder von den Thermalquellen, vom Sandboarden, vom Wellenreiten, von der Feierei - alles weg, hinfort. Vor unserer Abreise aus Iquique hatte ich meinen Rucksack mit den Wertsachen in einer Ecke im Hostal stehen gelassen und wir waren noch etwas essen gegangen. Wir waren spät drann gewesen und mussten hektisch aufbrechen, deswegen war keine Zeit für eine Kontrolle der Sachen geblieben.

Aus dem Schreck wurde alsbald ein ziemlicher Ärger. Eigentlich hatten wir uns mit allen Bewohnern des recht kleinen Hostals gut verstanden und waren auch zusammen ausgegangen. Ein schwarzes Schaf musste unter diesen Leuten gewesen sein. Aber es half alles nichts, Kamera und Handy waren weg und sind es bis heute. Warum, wie und wo, das ist im Prinzip gleichgültig. Wichtig war nur, dass nun nicht auch noch Julians Kamera ihren Geist vollständig aufgab. Jonathans hatte schon beim Unterwassershooting mit den Robben vor Galapagos die "Game over''-Fahne gehisst und die des Herrn Barabas sträubte sich nun entschieden dagegen, ihr versandetes Objektiv auszufahren. In der Not musst du kreativ sein, dachten wir uns, und klebten die Linse schlieβlich in einem komplizierten Hightech-Verfahren mit Tesafilm ab. Auf dass sie sich für den Rest des Urlaubs nicht mehr schlieβen sollte!

Dennoch sollte uns das nicht die Laune verderben. La Serena hatte einen schönen Strand zu bieten, allerdings ohne jegliche Wellen und stattdessen mit eher frischen Temperaturen, wir waren spürbar weiter südlich als noch im recht warmen Iquique. So wurde leider auch aus der geplanten Wellensurfstunde nichts, die Julian und ich uns vorgenommen hatten.

Stattdessen versuchten wir, einen Tunnel bis zum anderen Ende der Welt zu graben, wo uns höchstwahrscheinlich die sibirische Permafrostdecke Probleme bereitet hätte. Nach einer anstrengenden Stunde Arbeit waren wir bereits 1,08 Meter tief ins Erdreich vorgestoβen und beschlossen, fürs erste das Geheimtunnelprojekt nach Russland auszusetzen, da es an schwerem Gerät mangelte.

Wie bekanntlich jeder weiβ, wird es bei zunehmender Nähe zum Erdkern immer heisser. Wir drei Arbeiter vom Tiefbauamt nutzten diesen Vorteil der Geothermie natürlich in all unserer Genialität aus, um der eisigen Kälte zu trotzen! So setzten wir uns genüsslich in unser Loch und lieβen es von oben mit Sand schlieβen, bis nur noch die Köpfe herauslugten. Das war für die erste Stunde noch sehr unterhaltsam. Und schön warm am Popö'sche. So langsam aber verspührte einer nach dem anderen den Drang, wieder etwas Abwechslungsreicherem nachzugehen, doch mussten wir ernüchtert feststellen, dass wir unter dem Gewicht der Sanddecke alleine keine Chance hatten, uns selbst zu befreien. Sollte dies das Ende unseres Urlaubs gewesen sein?

Als wir schlieβlich nach Einbruch der Nacht, dem Heranrücken der Flut und einem Regenguss sondergleichen schon jede Hoffnung auf Hilfe verloren hatten, stolperte glücklicherweise noch jemand über einen unserer Köpfe und so konnte das Abenteuer weiter gehen.

Und das führte uns direkt in eine Eisdiele, in der uns zwei Freunde erwarten sollten, die uns schon den bisherigen Urlaub begleitet hatten: Nussferatu und Framboisestein. Die Dracula-Edition von Schöller hatte uns mit ihren schaurigen Himbeer -und Schokogeschmäckern schlimmste Alpträume beschert. Zur Belohnung gab es von jedem ein Poserfoto zusammen mit den zwei.

Gestärkt durch unser transylvanisches Eis machten wir uns sogleich auf zur nächsten Stadt, die laut "Lonely Planet" mit die schönste in Chile sein muss: Valparaíso. Nach "Avatar", "Blade II" und "Dracula 12 - Schlacht auf dem Zentralfriedhof" während der Nachtfahrt von La Serena, erreichten wir die Stadt der Begierde in den frühen Morgenstunden. Ein Traum!

An einer sehr weit gezogenen Bucht des Pazifiks gelegen, in deren sich anfügendem Hinterland stetig die Hügelketten in den Himmel schlängeln, so bietet Valparaíso schon auf den ersten Blick eine derartig groβe farbliche und architektonische Vielfalt, dass man sich in den wenigen uns zur Verfügung stehenden Tagen unmöglich satt sehen konnte.

Diese Verwinkelungen der ineinander verschachtelten, schrägen Häuser auf den verschiedenen Cerras hatten zum Teil etwas Italienisches an sich. Mit ihren schmalen Gassen, Treppen und alten Bergbahnen, die scheinbar ohne jegliche Logik - wie in einem Labyrinth - miteinander harmonieren, könnte man vielleicht sogar auch eine Parallele zur historischen Altstadt von Salvador da Bahia ziehen. Mit einigen Abstrichen: in Salvador nehmen nur Malucos ("Verrückte") die steilen, unbeleuchteten und gefährlichen Wege nach oben, während es in Valparaíso gerade zu ein Genuss für uns drei war, diese kleinen Anstrengungen auf uns zu nehmen. Vorbei an unzähligen schönen Graffitis, vielfarbigen Hundehaufen und Hundehaufenerzeugern, zeichnenden und sich unterhaltenden Studenten schlendernd, hat man meist das glitzernde Meer im Rücken. Dreht man sich dann um, sieht man auf ein geschäftiges Hafenviertel herab, in dem sich viele Chilenos tummeln und ihren Geschäften nachgehen.

Von dieser entzückenden Szenerie lieβen sich nicht wenige chilenische Dichter und Künstler inspirieren. Unter ihnen auch Pablo Neruda, so etwas wie der Goethe dieses Landes, welcher erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstarb. Neruda hat sich sein eigenes Haus auf einem Hügelchen Valparaísos erbauen lassen, das wir natürlich besuchen mussten. Um es kurz zu halten: so ein Haus will ich auch haben. Ganz und gar kein Riesenpalast, dafür aber in so unglaublich schöner Lage. Wer sich übrigens mehr für die spezielle spanische Dichtung dieses völkischen Schriftstellers interessiert, der Wende sich an Jonathan.

Wir spazierten viel in dieser Stadt aus dem Bilderbuch herum, fanden etliche Motive für passende Land-Art-Aufnahmen der besonderen Weise, erkundeten gerade zu antik erscheinende Friedhöfe und Gefängnisse, denen oft noch die schweren Folgen des Erdbebens einen Monat zuvor anzusehen waren, wohlwühlten in der warmen Sonne oder am Kaminfeuer unseres sehr angenehmen Hostels, genossen die Championsleague-Liveübertragungen. Gemütliche, aktive Erholung könnte ich mir kaum besser vorstellen. Valparaíso wurde uns als Hochburg der nächtlichen Szene Chiles ausgewiesen und natürlich sollten wir uns diese Chance nicht so einfach entgehen lassen. Ein kleiner Abstecher ins benachbarte Viña del Mar verschlug uns in eine angesagte Tanzbar. Von Elvis bis Daddy Yankee - der fehlt wirklich nirgendwo in Südamerika - schwangen wir die Hüften bis zum Morgengrauen. Der Rückweg war nicht weniger lustig, so aβen wir riesige Guakamole-Burger und Sojaburger der Extraklasse zum etwas vorgezogenen Frühstück.

Gemütlichst wurde ausgeschlafen, ehe uns der wieder einkehrende Hunger und vor allem Durst aus dem Bett hiefte. Die selbstgemachte Marmelade im Hostal, in Einklang mit leckeren Cornflakes und guten DVDs zum endgültigen, ganz ganz langsamen Aufstehen, schmeckte unglaublich vorzüglich - ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten neun Monaten ansonsten überhaupt welche gegessen zu haben!

Ein wenig traurig waren wir ja schon. Es sollte unser letztes gemeinsames Frühstück in Valparaíso gewesen sein und damit auch der vorletzte Tag unserer Dreieinigkeit. Schweren Herzens packten wir unsere sieben Sachen zusammen, blickten noch einmal wehmühtig von unserem Hügel über die von der Sonne in Gold getauchten Häuserdächer hinweg und machten uns dann ein letztes Mal an den Abstieg. Mittags trafen wir in Santiago ein, Chiles Hauptstadt und gleichzeitig mit Abstand bevölkerungsreichstes Gebiet. U-Bahn, groβe Prachtbauten, Parkanlagen, Berge in der Ferne, Smog in der Höhe - genauso wie bei meiner Ankunft, die nun schon fast zwei Wochen zurücklag.

Santiago hat sehr viele Reize. Wir hatten nicht einmal die Zeit, uns jeden Tipp im Reiseführer durch zu lesen, jedoch wollten wir zumindest zwei Dinge auf unserem kurzen Trip nicht auslassen: eine Aussichtsfahrt auf den Hausberg San Cristobal und einen sogenannte "Kaffee auf zwei Beinen". Die Besteigung des Hügels mitten in der Stadt erfolgte mit einer gemütlichen Bergbahnfahrt. Oben, an der übergroβen Marienstatue angekommen, bot sich uns ein wunderschöner Ausblick auf diese 6-Millionen-Metropole in ihrem Herbstkleid. Ja, der Leser mag sich verwundert die Augen reiben: auf der Südhalbkugel sind die Jahreszeiten den europäischen entgegengesetzt. Bahia liegt zu nah am Äquator, um diesen Effekt tatsächlich spüren zu können, Santiago befindet sich deutlich südlicher. Vor diesem Panorama lieβen wir fürs Foto ordentlich unsere Muskeln spielen und setzten uns in Musterpose.

Die letzten Sonnenstrahlen erhellten noch schwach die Straβen des Zentrums, durch das wir nun noch schlenderten, um einen Kaffee auf zwei Beinen zu trinken. Kaffee auf zwei Beinen? Was zum Teufel ist das eigentlich? Im Lonely Planet wurde dies als DER Trend in Santiago angepriesen, jeder müsse das einmal gemacht haben! Als wir schlieβlich vor dem Eingang standen, waren wir uns nicht ganz sicher, ob wir tatsächlich das gefunden hatten, was wir finden wollten. Eine vollständig abgeklebte Türe mit einem rosa Lichtschlauch a lá Reeperbahn lieβ keinen Blick von auβen zu und uns schwante Böses. "Niveau", dachten wir dennoch einstimmig und traten ein.

Drinnen wartete eine Frau im Bikini auf uns, wir waren quasi die einzigen Gäste in diesem abgedunkelten kleinen Raum. Sie war weder hübsch noch nett, im Gegenteil, man könnte sie sogar als recht unfreundlich -und mit der Schönheit eines Framboisesteins ausgestattet bezeichnen. Die Attraktion, einen Kaffee gebracht zu bekommen und dabei zwei tolle Beine zu Gesicht zu bekommen, verpuffte schlagartig. Die brühend heiβen Kaffees wurden ohne Rücksicht auf Verluste hinuntergeschüttet und weil wir Gentlemen sein wollten, die - niveauvoll - nicht nur auf äuβere Werte fixiert sind, lieβen wir der Dame sogar noch drei Groschen in der Musikbox zurück, wodurch der Raum zumindest passend mit "The final countdown" aufatmete. Dann nichts wie raus aus und auf nimmer Wiedersehen! Der sogenannte Geheimtipp war wohl eher als Scherz der Reiseführerschöpfer zu interpretieren. Kaffee auf zwei Beinen - das ich nicht lache.

Während wir diesen Schrecken erst einmal sacken lassen mussten, begaben wir uns auf eine groβe Einkaufstour für unseren Henkersabend. Ja, nach gefühlt einem Tag war das Unternehmen fast an seinem Ende angelangt. Um diesen Abend nicht in all zu heftiger Melancholie untergehen zu lassen, wurden die Biervorräte dementsprechend groβ angelegt. Dann bereiteten wir unsere berüchtigte Urlaubspasta zu, die wieder einmal vorzüglich schmeckte. Wie so üblich am Vortag eines Marathons, sollten auch wir unsere nötigen Partykalorienspeicher auffüllen. Wenn man es sich recht überlegt, hatten wir uns glaube ich über die gesamte Zeit fast ausschlieβlich von Pizza, Nudeln und Empanadas (kleine Blätterteigtaschen mit leckerem Käse darin) ernährt - geschadet hat's nicht.

Mit der entsprechenden Bierseeligkeit, einer ordentlichen Portion Gel (Julian im Kurt Krömer-3-Wetter-Taft) und edlem Duftwasser auf unseren unwiderstehlichen Häuptern waren wir nicht zu bremsen. Wir fegten über die Tanzflächen des Ausgehviertels wie der Tasmanische Teuffel bei Space Jam, wiegten uns im Takt der elektronischen Klänge und fasten uns rythmisch in den Schritt wie unser Meister Michael Jackson, schnitten Gesichter wie Michael Ballack bei seinem 1-0 gegen Österreich 2008. Kein Halten gab es mehr, wir zogen in die Schlacht gegen die DJs, sie hatten keine Chance, flohen und ergaben sich. Irgendwann im Morgengrauen saβen wir noch einmal bei einem letzten Guakamoleburger beisammen, ehe wir uns wie die Untoten zurück in unsere Särge legten und zu Stein erstarrten. Jonathan musste kurz darauf schon wieder aufstehen, um seinen Flieger zu bekommen. Einen recht müden Abschied mussten wir hinter uns bringen. Ehe man sich versah, war er mit dem Taxi auch schon um die Ecke. Genauso ein surrealer Moment, wie derjenige seines Erscheinens.

Zum Glück hatte ich ja noch meinen Julian bei mir, um mich zu trösten. Anstatt unseren letzten gemeinsamen Tag in Chile mit Schlafen und Faulenzen vorbeiziehen zu lassen, rafften wir uns noch einmal auf, um trotz spürbar matten Gemütes noch etwas von Santiago zu sehen. Mit der Metro fuhren wir ein wenig durch die Gegend, sahen uns das schicke Zentrum an, spazierten träumerisch durch einen schönen Park am Stadtrand und genossen die letzten Sonnenstrahlen dieser Reise im "Brasilianischen Stadtteil", während uns merkwürdige Künstler ihre merkwürdigen Portraits zur Schau stellten. Eine letzte Pizza, was hätte es anders auch sein sollen, rundete den Tag schlieβlich gekonnt ab.

Mir nichts, dir nichts, saβ auch ich am nächsten Morgen im Flugzeug nach Hause, über den Wolken vor mich hin dösend und träumend. Ich träumte vom Ausblick des San Cristobal, von Vulkanen, von Nussferatu, von hunderttausend Jahre alten Felsformationen im Licht der untergehenden Sonne, von den ewigen Wellen des Stillen Ozeans, von Pablo Nerudas Haus und der Silhouette Valparaísos, vom Sandboarden, vom Transsibirischen Tunnel, von uns und dem Glück des Lebens. Nur wir zu dritt. Am Ende der Welt.

1 Kommentar:

  1. Klasse Max! Ich habe mich zurückversetzt gefühlt ins letzte Jahr im Mai - da haben wir Catalin besucht in Chile und mit ihr die Nordreise gemacht. Geniale Landschaft, sehr freundliche Menschen. Da muss amn wieder hin!
    Gib Bescheid, wenn Du wieder zurück bist und Du einen "Fotabend" machst.
    Grüße
    Andrea

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