Dienstag, 17. November 2009

Ein Tag in der Oekologischen Schule

Edivaldo ist wohl der erste, der an diesem ganz normalen Montag in Brasilien aufsteht, um dem Betrieb der Oekologischen Schule an der grossen Landstrasse BA-093 - direkt an das Gelaende der Fundacao Terra Mirim anschliessend - ihr frohes Leben nach dem vergangenen Wochenende wieder einzuhauchen. Edivaldo ist der Schulbusfahrer.

In seiner gemuetlichen Laune erhebt er sich und schluerft genuesslich seinen obrigatorischen Cafezinho herunter, um auch das letzte bisschen Schlaf zu vertreiben. Schnell noch die Backmischung und die Packung Eiscreme unter den Arm gepackt und raus gehts in die Morgendaemmerung Bahias. An einem dem Autor unbekannten Ort stoesst Edivaldo nach kurzer Zeit auf seinen grossen Freund - den Schulbus. Welche Musik darf es heute sein? Was sind gerade die (Kinder-)Hits in Brasilien? Edi weiss es. Und so schaltet er froehlich vor sich hin summend die Musikanlage des Busses an, sinkt nieder auf seinen laut aechzenden Fahrersessel und setzt das Gefaehrt in Bewegung. Nun faehrt er einmal durch die umliegenden Gemeinden des Vale do Rio Itamboatá - Simoes Filho, Oitero, Pitanga, Dándá & Palmares - und sammelt seine Liebsten ein.

Seine Liebsten, das sind die Schulkinder. Mittlerweile braeuchten sie die kurzen blauen Hosen und beijefarbenen T-Shirts mit der Aufschrift "Escola Ecologica" gar nicht mehr zu tragen, um am Strassenrand vom vorbeirasenden Edi erkannt und eingesammelt zu werden. Denn er kennt seine "Schaefchen" gut. Trotzdem gilt auch in dieser Schule die landesweite Uniformspflicht und sorgt damit fuer gleiche Farben unter den Kids im Bus. Mit dem Aufgehen der Sonne und dem voller werdenden Schulbus steigt auch die Lautstaerke und Laune der Insassen. Die Kinder singen und man freut sich auf einen schoenen Vormittag im geborgenen Umfeld der friedlichen Natur und Menschen von Terra Mirim.

Friede - das ist es, nachdem sich viele von ihnen zutiefst sehnen. Die Liste ist lang. Alkohol -und drogenabhaengige Eltern. Familien, in denen der Vater die Mutter vor den Augen des Kindes verpruegelt und auch die Kinder selbst der Gewalt zum Opfer fallen. Ein Zuhause, indem man ohne ein Abendessen auf dem Boden schlaeft, zusammen mit seinen vielen Geschwistern. In Deutschland wuerde wohl jeder einzelne Fall in Form einer BILD-Schlagzeile entsprechende Empoerung und Entsetzen in unserer wohlhabenden Gesellschaft hervorrufen. Nicht so hier, in Nordost-Brasilien.

Um 9 Uhr morgens sind alle Kinder angekommen, man wird lieb begruesst von den verschiedenen Lehrern und freiwilligen jugendlichen Helfern, welche z.T. frueher auch diese Schule besucht haben. Nach kurzem Austoben im Freiem geht es dann direkt in die Klassenzimmer. Dabei gibt es meist zwei Klassen, eine fuer die aelteren (12-16) und eine fuer die juengeren (7-11) "criancas". Der Unterricht ist nach dem Erziehungskonzept der "Integrativen Oekologie" ausgerichtet, was die Themen rund um unsere Natur und Umwelt in den Vordergrund der Gestaltung rueckt. Ein schoenes Beispiel: Es wird ein Gedicht ueber die Farben der Schmetterlinge laut vorgelesen und abgeschrieben, ein Schmetterling gebastelt, und wenn die Zeit dann noch reicht, ein Spaziergang zum See unternommen, wo es allerhand Schmetterlingsarten zu bestaunen gibt. Aber auch Musikunterricht von Carla, der Gitarrenlehrerin aus Terra Mirim, Informatikstunden im brandneuen und topausgeruesteten Computerzimmer, sowie Volleyballunterricht vom Autor duerfen sie entgegennehmen.

Die Unterrichtsstunden im Klassenzimmer sind fuer deutsche Ohren auffaellig laut, was zum einen an der Hellhoerigkeit und Groesse des Raumes -, zum anderen aber auch an den tempramentvollen Wesen der Kleinen liegt. Da die Lehrer, welche meistens sogar zu zweit eine Klasse (von ca. 10-25 Schuelern) betreuen, gerne den Unterricht ueber diesen gewissen Laermpegel hinwegbruellen, dachte der Autor bei seiner ersten Begegnung mit dieser Kulisse spontan an Urupax. Dennoch musste er feststellen, dass die Lehrer mit ihrer schier unerschoepfbaren Geduld es gekonnt fertigbringen, den Kindern auf diese Weise etwas beizubringen. Disziplin wird ihnen auch von Anfang an vermittelt, so werden nach jeder Unterrichtsstunde gemeinsam der Saal gefegt und die Tische abputzt, sowie einmal pro Woche eine Generalsaeuberung der Schule vorgenommen, bei der alle anpacken.

Nach dem Unterricht ist Spielen angesagt: im grossen Gartenspielplatz mit seinen Schaukeln, Rutschen und Kletterbaeumen, auf dem ueberdachten Fussballfeld oder im kleinen Haus mit Puppenstube. Alles was das Kinderherz begehrt! Waehrend sich die Kinder vergnuegen, macht sich ein Teil der Lehrer/Jugendlichen daran, das kostenlose Mittagessen vorzubereiten. Gesunde Kost wird gekocht, dazu frisch gepresste Saefte mit vielen Vitaminen gemacht. Fuer manche Kinder ist es die einzige Malzeit am Tag. Und dementsprechend essen sie auch - sehr selten bleibt etwas uebrig auf den Tellern, welche sie danach selbst abwaschen. Heute ist einer von vielen Glueckstagen der Kinder in der Oekologischen Schule: wie erwaehnt hat Edi am Morgen die Backmischung fuer den Kuchen und das Eis nicht vergessen. Nach seinem kurzen Vormittagsnickerchen auf dem Trampolin der Schule mit einer Packung Nuesse im Arm, widmete er sich seiner eigentlichen Lieblingsbeschaeftigung - dem Backen. Nun darf es eine spezielle Orangen-Kokos-Schokoladenkuchenkomposition zum Nachtisch fuer die Kleinen sein, den sie mit grossen Augen dankend verspeisen.

Um die Mittagszeit faehrt Edivaldo dann die meisten mit dem Schulbus zu ihrer jeweiligen oeffentlichen Schule in der Umgebung, denn die Oekologische Schule ist nur ein edukatives "Zusatzangebot" von Terra Mirim. Die normale, staatliche Schule muss von jedem Kind durchlaufen werden. Aufgrund der z.T. katastrophalen Zustaende in den oeffentlichen Bildungseinrichtungen (ueberfuellte Klassenzimmer, Schueler ohne Schultaschen und zugehoerigem Material, Lehrer ohne Ausbildung und Motivation, etc.) darf sich der Leser allerdings fragen, was man denn nun eigentlich als Zusatzangebot bezeichnen sollte.

Da die Schulzeit in Bahia in drei Tagesabschnitte - Vormittag, Nachmittag, Abend - eingeteilt ist, holt der Schulbus beim Absetzen der Vormittagskinder gleich die Nachmittagskinder der Oekologischen Schule ab, welche vormittags die oeffentliche Schule besucht haben. Und so wiederholt sich der Zyklus dann ein weiteres Mal, allerdings tauscht beim Nachtisch der Kuchen mit dem Eis.

So schafft es diese Schule an einem Tag, vielen Kindern Freude einzuhauchen, friedliche Vitalitaet zuzulassen und dabei noch etwas beizubringen. Und wenn Edi gegen 17 Uhr die letzten singenden Schulkinder zu Hause absetzt, ist auch er gluecklich darueber, dass er einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat.