Samstag, 10. April 2010

Kapitel 4 - Teil 4: Wochen des Wandels?

Ich habe lange hin und her ueberlegt, wie ich diesen Teil des Blogs nun gestalten soll. Ich haette die gaehnend langen Gespraechsprotokolle fuer jederman zugaenglich machen koennen, was wohl zu viel des Guten gewesen waere (auf Anfrage aber gerne per Email). Genauso waere es moeglich gewesen, die Protokolle auf die wichtigsten Stellen zurueck zu stutzen, aber das verzerrt zwangslaeufig den wahren Hergang der Gespraeche und liesst sich ziemlich trocken.
Schlussendlich entschloss ich mich dann dazu, eine Art Zusammenfassung der fuer sehr entscheidenden Woche zu schreiben.

Es sollten drei Gespraeche stattfinden, die ueber die Zukunft des Verhaeltnisses zwischen uns Freiwilligen und der Stiftung Terra Mirim entschieden.

Erster Akt:
Unsere indirekte Verantwortliche Maria Isabel war ziemlich erstaunt, als ich ihr meine Situation am Dienstagmorgen nach der Rueckkehr aus Sao Paulo offenbarte. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich mit den momentanen Vorgaengen in Terra Mirim in Bezug auf die deutschen Freiwilligen absolut unzufrieden sei und, dass dies auch Thema des Zwischenseminars in Sao Paulo gewesen war.

Ich als Freiwilliger kaeme mir unnuetzig vor, genauso wie meine Arbeit, die in meinen Augen so gut wie nur dazu diene, Arbeit zu sein. Ein soziales Motiv vermochte ich dahinter nur um zwei Ecken zu erkennen, genauso die Tatsache, dass sich offensichtlich die vorher gestellten Ansprueche an meine Arbeit in Bezug auf die Wirklichkeit zwangsweise um 180 Grad gedreht haetten. In der Schule herrsche kein Bedarf nach paedagogischem Personal, im Gegenteil: die etwa 10 fast vollstaendig freiwilligen Lehrkraefte haetten den Ablauf super im Griff, verstuenden es selbst aeusserst gut, Unterricht und andere Aktivitaeten mit den Kindern zu leiten.

Und auch im Umweltbereich habe sich eigentlich so gut wie Nichts unter Einbezug der Freiwilligen ereignet, abgesehen von der Routinefuetterung der Bienen. Somit muesse ich mir zu meinem Bedauern eingestehen, dass ich nach sechs Monaten keinerlei langfristig-nuetzliche Arbeit fuer niemanden an diesem Ort hinterlassen habe und durch eine soziale Krise ginge.

Dem nahm sich Isabel, die zu Beginn nur mit uns zwei Freiwilligen an einem Tisch sass, an, allerdings wurde aus dem sechs-Augen-Gespraech bald ein zehn-Augen-Gespraech und zwei Tage spaeter hatte sich die Sache auch bis zum Letzten durchgesprochen, was mich im Nachhinein ziemlich veraergert hat.

Es wurde versucht, beruhigend auf die Situation einzuwirken, den sozialen Kontext Terra Mirims mit allen Projekten und Aktivitaeten klar zu stellen und zu beschwichtigen. Viel wurde erzaehlt ueber dieses "avantgardistische" Modell einer Gemeinschaft, dass jeder seinen Beitrag dazu leisten muesse und unverzichtbar sei. Gleichzeitig koenne man aber mit der noetigen Bereitschaft, welche womoeglich bei uns Freiwilligen nur eingeschraenkt vorhanden gewesen sei, immer neue Impulse setzen, worueber wir doch noch einmal nachdenken sollten.

Schlussendlich machte ich den Verantwortlichen deutlich, dass es nicht meine Absicht sei, weiter in der zu Einrichtung bleiben, sollte sich nicht grundlegend etwas am Plan unserer Wochen aendern und ich zweifelte laut an den gegebenen introspektionellen Moeglichkeiten Terra Mirims, welche tiefgreifende Impulse setzen koennten.

Zweiter Akt:
Einen Tag nach dieser sehr direkten und offenen Aussprache erschien unerwartet die Leiterin der Oekologischen Schule, um mit uns Freiwilligen und den Tischteilnehmern vom vorherigen Tag ueber die ernste Angelegenheit zu sprechen. Als eine der aeltesten Mitarbeiter Terra Mirims sollte sie die im Urlaub befindliche Alba Maria gewissermassen vertreten und neuen Wind in die Gespraeche bringen.

Nachdem ich meine Ausfuehrungen des Gespraechs vom Vortag wiederholt hatte, begann die Frau mit einem langen Vortrag. Sie holte ziemlich weit aus, erzaehlte von europaeischen Sklaventreibern, die Brasilien als eine Minderheitsdiktatur errichtet und ein soziales Erbe der Ignoranz bis heute im Land hinterlassen hatten.

Und nun habe Alba Maria vor 20 Jahren Terra Mirim gegruendet. Einen Ort inmitten einer der sich am meisten industrialisierenden Region Bahias, inmitten grosser struktureller Armut in den anliegenden Siedlungen, Armut, die auf das kaltherzige und verbrecherisch handelnde Europa der letzten 400 Jahre zurueck zu fuehren sei. Nach dieser kleinen Zeitreise stieg sie schliesslich im Thema "soziale Arbeit" ein, nicht zu letzt auch wohl deshalb, weil sie Jahre lang in Gewerkschaften und als oeffentliche Paedagogigen aktiv war.

Es gaebe zwei grundsaetzlich unterschiedliche Ansaetze zur Vorstellung sozialer Arbeit: 1.) man koenne ohne jeden Bezug zu den Menschen in eine Favela gehen, Kondome verteilen, fuenf verschiedenen Schulklassen pro Tag kurz Unterricht geben und zwischen drinn noch alten, pflegebeduerftigen Leuten vor Ort das Gesaess abwischen (bezeichnet als "europaeisch-bourgoise"), 2.) - und das sei nun die Philosophie Terra Mirims - koenne man auf langfristige Zusammenarbeit setzen, auf gemeinsames Wachstum und bescheidene Ziele mit wenigen, auserwaehlten Menschen (sie schilderte dies am Beispiel der Lehrer in Terra Mirim mit ihren z.T. bedrueckenden Schicksalen) hinarbeiten, die als Vorbilder in ihren jeweiligen Gemeinden die Leute mit sich zoegen: dies Alles im Verbund mit einer intakten Natur und einem gesunden Lebensstil.

Sie zaehlte aehnlich wie Maria Isabel am Vortag viele Dinge auf, die Terra Mirim realisiere und bereits verwirklicht habe, Baumpflanzungen, Flussreinigungen, Jugendgruppen, die Schule, usw. Damit alle diese Dinge aber funktionieren koennten, benoetige es genauso einer guten Pflege, Wartung und Verwaltung des Ortes.

Darauf ging ich schliesslich tiefer ein und versuchte klar zu stellen, dass das Problem eben genau darin bestanden habe, dass sich die Freiwilligen fast ausschliesslich um letztgenanntere, unmotivierende Dinge gekuemmert haetten und das in der Schule, im Gegensatz zur Ankuendigung, kein wirklicher Bedarf an Helfern bestehe. Ausserdem verwiess ich dabei auch noch auf das z.T. ruppige und undankbare Arbeitskllima, sowie den Mangel an Veranwortung, der mir zugestanden werde.

Es stellte sich heraus, dass in Terra Mirim tatsaechlich die Meinung herrscht, Verantwortung nur selten an andere zu delegieren - aus Angst vor Fehlern, die "folgenschwer fuer alle sein koennen." Daraufhin versuchte ich den Leuten klar zu machen, dass ein paar angegammelte Fruechte oder eine ausnahmsweise nicht heiss, sondern nur warm aufgewaermte Suppe (Gemuesemarkteinkauf und Essensaufwaermen wurden mir erst vier Monate nach der Ankunft zugetraut) auch der Stiftung Terra Mirim nicht den Untergang bringen wuerden - im Gegensatz dazu sei es voellig normal, dass nicht alle Ablaeufe ohne zugestandene Eingewoehnungsfehler sofort funktionieren koennten, sondern vielmehr ehrliches Vertrauen und Hilfestellungen der Sache gut tun wuerden.

Im Nachhinein hoffe ich, dass an dieser Stelle vielleicht ein kleiner Ruck durch die Beteiligten gegangen ist und man den neuen Menschen ein wenig mehr vertraut und ihnen auch mal Fehler zugesteht.

Zum Thema Umgangston war die Erklaerung recht knapp und eigen: als eine Gemeinschaft, die sich fast ausschliesslich aus Frauen, den in diesem Landesteil immer noch unterdrueckten Geschlecht, zusammenstelle, haetten sich ueber die Jahre gewisse Resistenzen und Haerten bei den Bewohnerinnen eingebuergert, die sich auch im Leben miteinander gelegentlich zeigten. Natuerlich sei dies aber nicht immer so gemeint, wie es bei manchen Gespraechen rueberkaeme, im Herzen fuehlten sich alle Bewohner schliesslich beisammen.

In meinen Augen (das habe ich aber am Tisch nicht gesagt): Erklaerung - ja, Rechtfertigung - nein. Man sollte, und das ist eine interkulturelles Notwendigkeit, zwischen Freund und Feind unterscheiden koennen. Wenn beim Streichen mal ein Farbklecks auf dem Boden landet oder die Aepfel in der Vorratskammer zu hoch gestapelt sind, dann kann man das mit jedem Menschen vernuenftig regeln - auch ohne seinen abschaetzigen Kommentar zum Besten zu geben!

Nun wollten wir auch konstruktiv mit der Situation umgehen. Ich hatte mir eine Reihe von Dingen ueberlegt, die sich mit den Dingen realisieren liessen, die ich beherrschte und die man gebrauchen koenne. Alle moeglichen Unterrichtsvorschlaege, Schlagzeug, Gitarre, Volleyball, Basketball, Englisch, Baumpflanzaktionen, Muellsammeln, Aufklaerungsprojekte (Mist, zurueck in de Bourgoisie), kurzum: etwas, wovon meiner Meinung nach auch MENSCHEN profitieren koennten!

Diesen Ideen musste die Schulleiterin sogleich den Riegel vorschieben, machte aber Hoffnung, dass es dieses Schuljahr wohl einen Englischunterricht geben werde (bis heute - April - nicht geschehen), ansonsten wuerden Restzeit, der Grad an Verantwortung fuer einen Freiwilligen und Belastbarkeit der restlichen Terra Mirim-Mitarbeiter keine neue Projekteroeffnung zulassen. Schlussendlich wurde mir eine Rolle als Mathelehrer und Teilnehmer bei einem Kooperationsprojekt in Aussicht gestellt - schon deutlich bessere Konditionen als noch zu Dienstbeginn.

Darueber hinaus bat ich die uebrigen Gespraechsteilnehmer deutlich, mich schlichtweg auf dem Laufenden zu halten, wenn es um konkrete Projekte Terra Mirims, bei denen Moeglichkeiten zur Partizipation bestuenden, gehe. Dies sei in der Vergangenheit allzu oft vergessen worden und die Freiwilligen somit unfreiwillig als Aussenstehende ausgeklammert worden. Alle sicherten mir in dieser Hinsicht Unterstuetzung zu und direkt im Anschluss an das Gespraech wurde mir eine kleine Einfuehrung in aktuelle Entwicklungen gegeben - Warum nicht gleich so?

Womoeglich auch deswegen fuehlte ich mich in meiner Botschaft an die Leute besser verstanden und respektiert, es liess mich bis zum dritten Gespraech mit Alba Maria eine Woche spaeter von der Idee abruecken, der Einrichtung den Ruecken zu kehren. Einen Versuch zu wagen, erschien mir ploetzlich doch als die bessere Alternative im Vergleich zu einer neuen Projektsuche und der damit verbundenen Umsiedlung an einen voellig fremden Ort, an dem man ohne Freunde und Erfahrung wieder total bei Null haette anfangen muessen. Endlich halbwegs Lehrer, involviert in Veranstaltungen vor Ort, mit Vertrauen ausgestattet - das koennte es wohl sein!

Dritter Akt:
Nun war also fast eine Woche vergangen, bis zur Kuechinchefin wussten alle von meinen Problemen und diskutierten offensichtlich auch darueber, natuerlich ohne, dass mich irgendjemand darauf ansprechen sollte (leider keine seltene Unart in dem Brasilien, dass ich kennengelernt habe). Ich versuchte, meinen ueblichen Tagesablauf runterzuspuhlen, machte mir viele Gedanken ueber das Hier und Jetzt und wie die Zukunft aussehen koennte. Klar, es haette doch alles so einfach sein koennen! Gerade in Bahia, wo doch die hoechste Inkarnation der Laessigkeit selbst Menschen und Gesellschaft zu unterwandern vermag.

Doch ist das Leben eben nicht immer so locker, wie man es sich wuenscht – es galt, pragmatisch und moeglichst positiv an die Sache heranzugehen, wenn schon die absolute Erfuellung aller urspruenglichen Wuensche und vermittelten Vorstellungen nicht gegeben sei. Immerhin: eine anstaendige Taetigkeit als Lehrer und wahrscheinlich ein Portioenchen Respekt vor meinen Motiven sollte ich mir erarbeitet haben, nicht zu vergessen die klare Devise an meine Verantwortlichen: lasst mich auch Aufgaben uebernehmen, die dem Weltwaertsgedanken entsprechen.

Es galt, erst einmal pragmatisch mit der Situation umzugehen. Dass ich mich in dieser Woche heftig erkaeltete, wurde natuerlich sogleich als psychosomatische Reaktion von den Verantwortlichen ausgelegt, mag sein, aber es belastete mich nicht uebermaessig. Die Tatsache, sich offen ausgesprochen zu haben, gab mir in diesen Tagen eine positive Kraft. Dinge, die mich sonst nervten und ueber die ich mich innerlich unheimlich aufregen konnte, gab es zwar immernoch – anstatt mich aber reinzusteigern und darunter zu leiden, begann ich nun endlich wieder, Humor walten zu lassen, nicht alles so scharf zu sehen, den Alltagsabfluss zu leeren. Und siehe da: die Regenschauer lichten sich.
Und dann bekommt Dilan fuer ein Kleinprojekt eine Privatspende von 500 Euro (!).
Und dann kommt aus Deutschland eine liebe Postkarte fuer mich, ueber die ich mich gar nicht genug freuen konnte – man hat doch Leute, denen man etwas bedeutet, nur eben etwas weiter weg und das gibt einem ein sehr geborgenes Gefuehl.

Anfang naechster Woche dann ein sehr beruhigendes und resuemierendes Gespraech mit Alba Maria, die aus dem Urlaub zurueck gekommen war. Es wurde gesprochen ueber eine Vorstellung von Heroismus, die den Menschen heute ueber die Medien vermittelt wuerde, welche nicht den wahren Tatsachen entspricht.
Genauso gab sie uns unsere Entwicklung in Brasilien aus ihrer Sicht zu verstehen. Ihrer Meinung nach, haette vor allem zu Beginn des Dienstes ein Problem darin bestanden, dass wir uns nur sehr wenig mit Gleichaltrigen beschaeftigt hatten. Jugendliche muessten rauskommen in die Welt, sich vergnuegen mit Ihresgleichen, das Leben von der lockeren Seite sehen. Der Meinung bin ich allerdings auch sehr.

Im Nachhinein hoerte sich das fuer mich ausserdem recht bitter an, wurden wir doch zu Dienstbeginn ueberdeutlich vor dem Ausgehen in die Nachbarschaft gewarnt, ja, sogar dazu genoetigt, eine Unterschrift unter eine Erklaerung nach dem Motto „wenn ich rausgehe, bin ich fuer mich selbst verantwortlich und komme moeglichst vor Einbruch der Dunkelheit zurueck“ zu setzen (dumm nur, dass die Dunkelheit meist eine Stunde nach Dienstende unter der Woche einsetzt). Regelungen im Sinne von „nur 2 mal pro Woche in den Nachbarort“ waren kurzzeitig Gegenstand ernsthafter Absichten. Wie gesagt, das geschah alles waehrend den ersten Monaten des Dienstes, in denen natuerlich den Verantwortlichen unsere gesunde und sichere Eingewoehnung am Herzen lag. Jedoch sollte man das nicht vergessen, hat letztendlich doch die gute Absicht der Vorgesetzten allen Beteiligten geschadet und der Stimmung nicht gut getan – aus Fehlern lernt man eben.

Eigentlich hatte ich schon vor diesem letzten Gespraech gespuert, dass diese Woche voller Trubel ein positiver Wandel folgen sollte. Heute im April, also rueckblickend, weiss ich, dass mein Gespuehr an diesem Tag richtig lag. Ich fuehle mich so gut, wie lange nicht mehr: waehrend der Arbeit, beim Reisen, im Verhaeltnis zu den Mitbewohnern. Und letztendlich wieder die Feststellung, dass ein Blick in sich selbst und der offene Dialog nicht immer einfach, jedoch so gut wie immer erfolgreich sind.


Teil 1: Zwischen Tucanen, Strandparadies und Krokodilen
Teil 2: Wo Licht ist, ist auch Schatten
Teil 3: Metropolis
Teil 4: Wochen des Wandels?

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