Dienstag, 30. März 2010

Kapitel 4 - Teil 2: Wo Licht ist, ist auch Schatten

Die folgenden Zeilen werden nicht jedem gefallen, der das hier liest. Es geht um meine persoenliche Meinung, die ich im Sinne der Aufrichtigkeit auch aeussern sollte, wenn mir mal etwas nicht passt. Sie spielt im Sinne des Dialogs zwischen dem deutschen Staat, den ich in Brasilien vertrete und der die ganze Angelegenheit finanziert, meiner Arbeitsstelle Terra Mirim selbst, sowie meinen Spendern und meiner Entsendeorganisation Amntena hoffentlich eine Rolle. Nicht zu Letzt soll dieser Bericht den naechsten drei Freiwilligen, die in dieser Einsatzstelle unterkommen werden, vorzeitig helfen, sich auf das Leben und die Arbeit hier einzustellen - eine Hilfestellung, die ich leider vor meinem Aufbruch nicht erhalten habe, mit besten Gruessen an dieser Stelle an meine Vorgaenger. Aber wollen wir nicht unnoetig Sand aufwirbeln und widmen wir uns den Tatsachen, mit denen es umzugehen gilt.

Fangen wir also ganz von vorne an: mit der Vorbereitung auf Terra Mirim in Deutschland.
Im Laufe der Jahre 2008 und 2009, also waehrend meiner Zeit als Abiturient, bekam ich ueber meinen Verein Amntena Material zugeschickt, dass direkt von Terra Mirim stammte. Es sollte mir dabei helfen, mich auf das Jahr in Brasilien vorzubereiten. Meine Spender werden sich erinnern - an meinen Flyer, auf dem gross und schoen von DEM Konzept der "Integrativen Oekologie" als Vorzeigeleitlinie einer Oekologischen Schule erzaehlt wird. Es war davon die Rede, dass ich hauptsaechlich in paedagogischer Taetigkeit auf eben dieser Schule in Brasilien aktiv werden sollte. Sogar mein eigenhaendig unterzeichneter Arbeitsvertrag spricht von "Mithilfe in dem Projekt, Unterrichtsbegleitung" und das war - ganz nebenbei - auch bei Dilan, meiner deutschen Kollegin hier, der Fall.

Weitere Informationen bekam ich im Vorfeld des "Partnerdialogs" noch in Form einer Kurzbeschreibung Terra Mirims. Idyllisch-poetisch wurde darin beschrieben, wie man sich um die Kinder in der Schule kuemmert, wie die etwa zwanzig Bewohner stets gemeinsam einem spirituellen, schamanischen Leitgedanken folgen, durch den sie viele soziale Projekte verwirklichen. Dass sie Baeume pflanzen, die Umwelt mit Hilfe der ortsansaessigen Bevoelkerung zu schuetzen versuchen und "mit eigenen Haenden die Fluesse" reinigen.

Jetzt meine ganz neutrale Frage an die Leser - gehen Sie einmal tief in sich - : Was hat man sich bei dieser Informationslage im Vorfeld des Dienstes unter seiner Arbeit vorzustellen? Dass man fuenf von elf Schichten in der Woche in einem Sekretariat auf Anrufe wartet, Akten ordnet, Telefonlisten erstellt und den Tuerknopf betaetigt, wenn jemand das Gelaende betreten oder verlassen will (Dilan)? Dass man seine Zeit hauptsaechlich damit zubringt, Blaetter und Grass zu kehren, zu putzen, Essen fuer die Gemeinschaft aufzuwaermen, Werkzeuge zu polieren, Beete zu bewaessern und eine von niemanden benutzte Bibliothek in Stand zu halten? Aber der Reihe nach, will ich mich doch nicht als arroganter, staendig unzufriedener Bourgoise aus Deutschland outen, der an allem etwas auszusetzen hat und sowieso keine Lust auf nichts hat. Jedoch ist eine, fuer die Leute hier in Brasilien selbstverstaendliche (!), Diskrepanz zwischen Werbeaufruf in Deutschland und Wirklichkeit wohl fuer jeden auf den ersten Blick ersichtlich.

Natuerlich muss ganz klar gesagt werden: wir Deutschen wussten, dass wir in einer schamanischen Gemeinschaft unterkommen, dass die Gemeinschaft ihre Regeln hat - wie feste Essenszeiten, Verzicht auf Fleisch und Alkohol und das fanden wir sehr interessant. Mir als Vegetarier faellt es ohnehin leicht, Gemuese und Soja zu essen und sein Feierabendbier kann man auch ausserhalb des Gelaendes zu sich nehmen. Oder auch mal zwei. Kein Problem soweit zu dieser Idee. Im Gegenteil, mit grosser Spannung blickte ich der Sache entgegen, die mich mit ernaehrungsmaessig Gleichgesinnten zusammen bringen sollte.

Auch dem Schamanismus wandten wir uns sehr offen und interessiert zu: Was heisst das, wenn eine Schamanin wie Alba Maria Terra Mirim leitet? Wie sieht das Leben einer Gemeinschaft aus, die sich auf ewig untrennbar und sehr tief mit der Natur verbunden hat? Ja, was ist Schamanismus ueberhaupt? Auf die Antworten war ich vor meiner Abreise nach Brasilien sehr gespannt und auch im Partnerdialog mit der Vertreterin von Terra Mirim Deutschland und Albas Sohn Tiago gegen Ostern wurde diese Vorfreude geschuert.

Letztendlich war meine Vorstellung von Terra Mirim im August 2009, also kurz vor Entsendung, so: Hauptsaechlich Arbeit im Lehrbereich (auch wenn ich die Sprache noch lange nicht sicher beherrschte, es musste ja wohl dennoch moeglich sein, Wissen an den Mann zu bringen!), zusaetzlich Mithilfe in Projekten zum Umweltschutz wie beispielsweise beim Bienenprojekt oder beim Baumpflanzen und natuerlich die Teilhabe an sozialen Aufgabrn fuer den "Dienst im hoeheren Sinn", der doch in der Kurzbeschreibung Terra Mirims so angepriesen wurde. Auch die Tatsache, dass es gelegentlich Theaterstuecke aufzufuehren gibt, machte mir Mut, hatte ich doch schon fuenf Jahre Theater auf dem Buckel und koennte bestimmt meine Ideen an der ein oder anderen Stelle mit einbringen, genauso wie moeglicherweise meine Schlagzeug- und Gitarrenkenntnisse vielleicht sogar hilfreich den Jugendlichen vor Ort vermitteln.

Zeitsprung, wir befinden uns jetzt in einer der ersten Montagsbesprechungen zur Erstellung des Wochenplans von Dilan und mir, gut drei Wochen nach unserer Ankunft. Die Zeit bis dahin war fuer mich alles andere als einfach. Hatte ich doch erstens den anstrengenden, aber nicht besonders produktiven Sprachkurs in den Knochen, fuer den ich zwei Wochen lang vier Stunden taeglich mit dem Bus nach Salvador und zurueck fuhr - fuer nur anderthalb Stunden langweiligsten Unterricht. Und ausserdem erhielt ich bei meiner regelmaessigen nachmittaglichen Rueckkehr Arbeiten, die so ganz und gar nicht der Voelkerverstaendigung oder aehnlichen Vorstellungen internationaler Zusammenarbeit entspricht. Da hiess es fast immer "Unkraut pfluecken". "Anstatt raus in die Welt zu gehen und Leuten etwas von dir - im hoeheren Sinne - geben zu koennen, wird man dazu verbannt, vor einem Beet zu knien und Grashalme abzuernten, sich also mit dem Kleinsten vom Kleinen abzugeben - Arbeiten, die nichts und niemandem helfen", das waren meine mich peinigenden Gedanken, die natuerlich nicht halfen, die ein oder andere Heimwehattacke wegzustecken - "war nicht alles doch eine voellig schwachsinnige Idee? Haette ich nicht ein Jahr lang einfach einen Zivildienst machen koennen und mein Leben im Kreise der Familie und Freunde geniessen sollen?" Nein, immernoch fuehlte ich mich zu einer guten Sache berufen, die ihren Sinn hat.

Und nun kommt doch die so auf Harmonie und produktives Zusammenleben geeichte Schamanin bei der Wochenbesprechung daher und poltert tatsaechlich nach unseren ersten zaghaften Verbesserungsvorschlaegen unserer Arbeit gegenueber los: "Ihr seid Freiwillige der Gemeinschaft Terra Mirim, NICHT der Oekologischen Schule!" Verwirrung und Entsetzen holten mich ein. Sollten wir nun etwa doch nicht in der Schule arbeiten oder in Projekten des Umweltschutzes eine Rolle spielen? Doch doch, gewiss: zwei Schichten woechtentlich in der Schule, sowie eine Schicht zur Fuetterung der Bienen wurden mir zugesprochen. Macht drei von elf. Ich konnte es mir eines Abends dann nicht mehr verkneiffen und oeffnete eine Schublade in der Rezeption, in der die Arbeitsplaene unserer Vorgaenger lagerten. Und ich traute meinen Augen nicht: diese hatten tatsaechlich, wie es unsere Werbung in Deutschland ja vermittelte, so gut wie jeden Tag in der Schule gearbeitet, teilweise sieben Schichten. Da fuehlt man sich ehrlich gesagt einfach nur verarscht. Vor allem bei dem Gedanke daran, dass Alba Maria beim oben geschilderten Treffen nicht uerwaehnt liess, dass "ALLE vorherigen Freiwilligen zu gleichen Teilen in allen Bereichen Terra Mirims gearbeitet" haetten. Der Glaube daran war zu Recht ins Wackeln geraten.

"Freiwillige der Gemeinschaft Terra Mirim", was sollte das nun also heissen? Wir durften es erfahren. Es ist eigentlich ganz einfach. Als Freiwilliger der Gemeinschaft Terra Mirim hilft man der Gemeinschaft, dass diese ihren hoeheren Taetigkeiten nachgehen kann. Ein Beispiel: wenn ich Unkraut pfluecke, muessen andere der Gemeinschaft das nicht machen und koennen sich "wichtigeren" Dingen widmen. Dumm nur, dass die schamanische Philosophie an dieser Stelle im Weg steht, die da so schoen besagt: "Es gibt hier keine wichtigen und unwichtigen Dinge - Alles ist wichtig." Das hatten sie in der Sowjetunion auch posaunt, die "Arbeiter und Bauern" verrichteten gegenseitige Dienste an sich im Sinne der Bruederlichkeit und Gleichheit. Aber, wie es nun einmal so ist: manche waren gleicher als andere. Und dieses Gefuehl liess mich auch in Terra Mirim nicht los.

Warum durfte ich ploetzlich Werkzeuge polieren, Yoga-Matten desinfizieren, Gemuese fuer die Gemeinschaft einkaufen gehen, Pflaenzchen giessen, Blaetter kehren, Unkraut jaehten und Dilan in der Rezeption hinter dem Schreibtisch versauern? Klare Antwort von Seiten der Einrichtung: "Weil es absolut wichtig fuer uns alle ist und es sonst niemand machen kann. Wir sind voll auf euch angewiesen. Wir jehten das Unkraut, damit die Beete schoener werden, damit die Leute, die hier vorbeikommen es schoener finden, damit diese vielleicht oefters hierher kommen, damit alles bekannter wird und expandieren kann in seiner Rolle als avantgardistisches Weltmodel" Aha. Da haben wir also den Widerspruch gefunden, der Terra Mirim und die Werbung der Einrichtung entzweit: Es werden Freiwillige (aus dem Ausland!) gerufen, um bei den vielfaeltigen und sehr tollen (!) Projekten mitanzupacken. Gleichzeitig ist man aber "absolut angewiesen" auf deren Hilfe beim Erhalten und inneren Zusammenhalten des Ladens, egal mit welchen Interessen, Staerken und Motivationen diese Menschen in Brasilien landen.

Und das ist so ganz und gar nicht in Ordnung, vor allem, dass ich mir in spaeteren Gespraechen - zu denen wir noch kommen werden - den offenen Vorwurf gefallen lassen musste, Opfer meiner existenzialistischen Motive zu sein. Welch Paradoxie und Demuetigung zugleich! Ein Jahr in Brasilien, fernab der Familie und Freunde, die man vermisst, ohne Lohn, mit Samstagsschichten und all das nicht um hauptsaechlich zu helfen, sondern um davon zu profitieren und sich selbst zu verwirklichen? Natuerlich hat man unglaublich viel davon, man lernt eine neue Sprache und Kultur, eine andere Lebensart kennen, aber im Vordergrund stand von mir urspruenglich ganz klar eine erfolgreiche Arbeit und die Hoffnung, Jugendlichen und Kindern etwas auf den Weg geben zu koennen.

Und selbst wenn es denn so ist, dass mich auch Abenteuerlust und der einfache Wunsch, etwas ganz Neues zu erleben nach Brasilien gelotst haetten - wer kann einem dies veruebeln? Es ist im Grunde genommen die philosophische Grundfrage nach dem Selbsterhaltungstrieb: Kann ich wirklich ein Leben lang selbstlos sein, nur fuer andere bestehen und allen Interessen vor meinen Vorrang lassen? Auch die Menschen in Terra Mirim leben nicht ohne Eigenmotive an diesem Ort, das muss klargestellt sein. Die vielen schamanischen Rituale, Gesaenge, Meditationen, Koch -und Saftkurse, Yogastunden, der ultragesunde Lebensstil, eine "Meisterin" und Mutter fuer alle und auch diese selbst reist gern und viel um die Welt - unverkennbar wichtige Motive, wenn nicht sogar DIE Motive vieler Teilnehmer, an der Gemeinschaft Teil zu haben. Und es ist ja niemandem zu veruebeln, ganz im Gegenteil! Es ist doch voellig in Ordnung und verstaendlich, den Traditionen der Vorfahren und indigenen Voelker dieser Welt zu folgen, gesund im Einklang mit der Natur zu leben, innerlich heilen duerfen, die Welt zu erkunden und sich von der Leistungsgesellschaft abzukoppeln. Und es ist gut so, dass jeder seinen Spass an der Sache hat, den das formt doch gerade eine glueckliche Gesellschaft. Aber eins muss klar sein: in Terra Mirim zu leben, heisst Selbsterfuellung im allerhoechsten Sinne - sich auf eine innere Reise zu machen und daraus Kraft zu schoepfen fuer die anstehenden (moeglichst sozialen) Aufgaben, darin liegt das Kernmotiver fast aller Bewohner. Liebe deinen Naechsten wie dich selbst, heisst es so schoen auch im Christentum. Also dann doch keine 100% bedingungslose Hingabe aller Kraefte fuer das Leben anderer Menschen. Man kann darueber eine philosophische Diskussion entfachen, ob es ueberhaupt moeglich ist, ohne Selbsterhaltungstrieb zu leben? Man wuerde vielleicht bei Jesus Christus als moeglichem Vorbild landen und sich Gedanken darueber machen, ob das Paradies auf Erden somit existieren kann. Ein spannendes Thema in jedem Fall nicht nur fuer Theologen!

Jetzt will ich aber nicht uebermaessig schwallen: die Zeit zwischen September und Februar war, auch aufgrund des Urlaubs um die Weihnachtszeit, sehr ergiebig und lehrreich. Meine Motivation konnte ich immer wieder an bestimmten Punkten zurueckgewinnen. Sei es eine spassige Stunde mit meinen Volleyballmaedels, das dreitaegige EcoArtfestival, der langsam einsetzende Englischunterricht mit unserer einen Schuelerin (dieses Jahr werden es wohl mehr sein!), die Jugendgruppe - eine wirklich tolle Initiative mit viel Potenzial, welche Freude auf mehr macht -, die "Demonstration", bei der Dilan und ich durchs Dorf gingen und Flugblaetter verteilten, die Fortschritte beim Sprechen, das Finden von Freunden ausserhalb, die Ausfluege zu Straenden, nach Salvador.

Aber an manchen Tagen zog es mich doch ziemlich tief runter, dieses Gefuehl, den Zweck zu verfehlen. Vielleicht in diesem Fall speziell durch den Kontrast zur grossen Reise mit meiner Mutter hervorgerufen, so waren einige Arbeitsttage des Januars und Februars mehr frust-, als lustreich. Das lag auch mit Sicherheit daran, dass die Oekologische Schule nun zu allem Ueberfluss auch noch Sommerferien hatte, die zwei fixen Schichten also vorruebergehend wegfielen. Anstatt nach abwechslungsreichen Alternativen zu suchen, bedeutete dies aber nur: noch mehr Rezeption fuer Dilan (bis zu 7 von 11 Schichten) bzw. Blaetterfegen/Beete pflegen fuer mich. Und das, obwohl wir wiederholt zu verstehen gegeben haben, dass wir uns als Projektarbeiter sehen und nicht als Diener der Gemeinschaft.

Ein wahrer Durst nach sozialer Verantwortung liess mich in der sommerlichen Trockenzeit Bahias schmachten.


Teil 1: Zwischen Tucanen, Strandparadies und Krokodilen
Teil 2: Wo Licht ist, ist auch Schatten
Teil 3: Metropolis
Teil 4: Wochen des Wandels?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen